Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative: eine Nachlese

Das Schweizer Volk hat abgestimmt: die Zuwanderung in die Schweiz soll in Zukunft wieder kontingentiert sein, die Personenfreizügigkeit für EU-Bürger fällt somit weg.

Doch das Abstimmungsergebnis ist mit 50.3 % denkbar knapp. Was sagt dies über die Stimmung in der Bevölkerung? Was sagen die Initianten, wie reagiert die EU? Und wie geht es jetzt weiter? Diesen Fragen widmen wir uns in unserer Abstimmungs-Nachlese.

„Das ist ein historischer Tag“ verkündete SVP-Nationalrat Luzi Stamm. Und fügte vollmundig hinzu: „Die Initiative ist der Beweis dafür, dass die SVP als einzige Partei die Ängste der Bevölkerung ernst nimmt.“ Ähnlich sah es auch der Vater der Initiative, Christoph Blocher. Für ihn sei das Abstimmungsergebnis ein Beweis, dass es noch „viel gute Substanz“ in der Bevölkerung gibt. Er sieht das Ergebnis als besonders beachtlich an, da die Schweizer von innen und aussen „bedroht“ worden seien, mit Nein zu stimmen.

Gegenstand der Initiative war die Personenfreizügigkeit, die in der Schweiz seit 2007 für EU-Bürger gilt. Davor waren die Kontingente für Zuwanderer, egal aus welchem Land, streng limitiert und wurden je nach Wirtschaftslage immer wieder neu verhandelt. Die SVP argumentierte in ihrem Initiativ-Argumentarium, dass eine unkontrollierte Zuwanderung viele Probleme für die Schweiz nach sich ziehen würde, zum Beispiel eine Unterhöhlung der Schweizer kulturellen Identität oder Engpässe in der Wohnraumversorgung.

Insgesamt fiel das Ergebnis sehr knapp aus. Nur gut 46’000 Ja-Stimmen hatte die Initiative am Ende Vorsprung. Insgesamt stimmten 50.3 Prozent der Wahlbeteiligten dafür, 49.7 Prozent dagegen. Nach Kantonen gegliedert zeigt sich ein Ost-West-Gefälle: Während in den französischsprachigen Kantonen stets die Mehrheit gegen die Zuwanderungsbeschränkung stimmte, waren in den deutsch- und italienischsprachigen Kantonen jeweils mehr als 50 Prozent dafür. Ausnahmen: die Kantone Zürich und Zug, wobei in Letzterem das knappste Kantonsergebnis (49.94 Prozent Ja, 50.06 Prozenz Nein) erzielt wurde.

Die Reaktionen

Die EU reagierte freilich enttäuscht. Zuvor hatte bereits EU-Parlamentspräsident Martin Schulz vor einem Erfolg der SVP-Initiative gewarnt. Der Erfolg der Schweizer Wirtschaft sei dadurch gefährdet, sagte der Deutsche gegenüber der NZZ. Mit einem Einbruch der Wirtschaft hatten auch Wirtschaftsverbände argumentiert und zu einem Nein aufgerufen. Ob sich dieses Szenario erfüllt, bleibt abzuwarten. Beachtung verdient in jedem Fall die Wortwahl Schulz‘: die EU könne keine Einschränkung der Personenfreizügigkeit dulden. Wie wird die EU nun reagieren? Sanktionen gegen die Schweiz verhängen? Vielleicht ist den Herren in Strassburg und Brüssel entgangen, dass die Eidgenossenschaft weder EU-Mitglied noch Mitgliedschaftsanwärter ist. Die verbalen Drohgebärden wirken so, als wolle die EU Europa um jeden Preis ihrem Diktat unterwerfen – aller Demokratie zum Trotz.

Das Schweizer Stimmvolk hat Rückgrat gezeigt, kein Zweifel. Trotz aller Unkenrufe, Schwarzmalereien und Drohungen hat sich die Mehrheit für die Eigenständigkeit ihres kleinen Landes entschieden und gegen Fremdbestimmung durch die EU. Doch darf man nicht vergessen, dass (fast) die Hälfte der Schweizer eine freizügige Zuwanderung begrüsst hätte. Ob sie sich für die andere Hälfte ihrer Landesgenossen „fremdschämen“, wie böse Zungen behaupten, sei einmal dahingestellt. Ganz sicher aber hat sich gezeigt, dass die Schweiz in der Frage der Zuwanderung im Grunde tief gespalten ist. Deswegen kommt es umso mehr darauf an, dass der Bundesrat, der jetzt den Auftrag für die Neuverhandlung der bilateralen Verträge mit der EU hat, den Volksauftrag umsetzt – aber mit Fingerspitzengefühl.



Wie soll, kann, muss es weitergehen?

Dass er eventuell überhaupt nicht aktiv wird, befürchtet Luzi Stamm. Man müsse dem Bundesrat „genau auf die Finger schauen“ und eventuell „eine neue Initiative lancieren“, falls er passieren Widerstand leisten sollte. Christoph Blocher interpretiert übrigens das Abstimmungsergebnis als Misstrauensvotum „par excellence“ gegen den Bundesrat. Er müsse jetzt zeigen, dass er in der Lage sei, den Volkswillen umzusetzen. Falls er dazu innerlich nicht in der Lage sei, so Blocher, müsse er zurücktreten. Noch weiter geht der ehemalige BDP-Präsident Hans Grunder. Er findet es logisch, dass nun, nach dem Ja, alle Bundesräte bis auf Ueli Maurer (ohnehin SVP) durch SVP-Leute ersetzt werden, denn da die SVP mit ihrer Initiative die Mehrheit des Volkes hinter sich gebracht habe, solle sie nun auch die Regierungsverantwortung übernehmen.

Tiefe Spaltung der Schweiz – zumindest in der Zuwanderungsfrage

Alles in allem keine leichten Zeiten für die Schweiz. Auf der einen Seite ist das einmalige Modell der direkten Demokratie durch massive Einflussnahme von aussen gefährdet; auf der anderen Seite agieren die tapferen Kämpfer für die Schweizer Unabhängigkeit arg populistisch und sehen sich als alleinige Vertreter des wahren Volkswillens, was allein schon die Abstimmungszahlen widerlegen. Offenbar hat die Masseneinwanderungs-Initiative etwas im Schweizer Volksbewusstsein zutage gefördert, das tiefer liegt als die Frage wie viele Ausländer jährlich einwandern dürfen. Es geht darum, ob das Schweizer Modell der Neutralität, Unabhängigkeit und direkten Demokratie im 21. Jahrhundert überhaupt noch tragbar ist. Es geht darum, wie die Schweiz sich gegenüber einem immer dichter werdenden und immer dominanter werdenden EU-Machtblocks positionieren soll.

In den anderen zwei abgestimmten Initiativen zeigte sich kein Beinahe-Patt. Die Initiative zur Privatfinanzierung der Abtreibung wurde mit mehr als 68 % Nein-Stimmen abgeschmettert, mit ebenfalls klaren 62 % Ja-Stimmen entschied das Volk in der „Fabi“-Sache (Finanzierung und Ausbau der Eisenbahninfrastruktur), dass der Bund deutlich mehr Geld für den Ausbau des Schienennetzes zur Verfügung stellen muss.

 

Titelbild: Screenshot 20min.ch

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