Kostenexplosion bei Arzneimitteln – die Schweizer greifen häufiger zur Pille

Berichten zufolge greifen die Schweizer immer häufiger zu Medikamenten, es werden Jahr für Jahr mehr Pillen geschluckt. Das jedenfalls bringen jüngste Forschungen zutage, welche die grösste Krankenversicherung der Schweiz, das Unternehmen Helsana aus Dübendorf im Kanton Zürich, das Institut für Pharmazeutische Medizin der Uni Basel sowie das Unispital Basel gemeinsam durchführten. Auf mehr als 200 Seiten wird genau analysiert, in welcher Menge, zu welchen Preisen sowie gegen welche Beschwerden Medikamente in der Schweiz konsumiert werden.

Bei der Konsummenge liegt wie zu erwarten das Schmerzmittel deutlich in Führung. Mit rund acht Millionen Bezugseinheiten sind die Schmerzkiller die Nummer eins unter den Kostenverursachern im Schweizer Gesundheitswesen. Rund 220 Millionen Franken werden im Jahr über die Kassenabrechnungen für Mittel zur Schmerzlinderung fällig, deren Preis in den letzten acht Jahren radikal gesunken ist und teilweise auf dem Preislevel einer Tasse Kaffee liegt. An zweiter Stelle rangieren, sicher eher unerwartet, Medikamente gegen diverse psychische Erkrankungen, Angststörungen und Depressionen, die von rund einer Million Schweizern konsumiert werden.

Der schnelle und teure Griff zur Pille

Die Krankenkassen der Schweiz ächzen unter der Kostenlast, die der schnelle Griff der Versicherten zur Pille verursacht. Teure Spezialpräparate, aber ganz besonders der gewaltige Konsum von Antidepressiva sowie von Schmerzmitteln sorgen für eine regelrechte Kostenexplosion. Nach den Forschungsergebnissen konsumieren 2,4 Millionen Schweizer regelmässig Schmerzkiller und verlassen sich dabei primär auf Dafalgan aus dem Hause Bristol-Myers Squibb, einem Unternehmen mit Hauptsitz im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Als kostenintensivstes Präparat gilt in der Schweiz das Medikament Humira, das bei starken Rheumabeschwerden, Morbus Crohn, Morbus Bechterew oder auch Arthritis Anwendung findet und biotechnisch hergestellt werden muss. 7000 Schweizer sind zur Linderung der Beschwerden auf dieses sehr teure Medikament zwingend angewiesen, wodurch das hochpreisige Produkt an der Spitze der Rangliste von Einzelmedikamenten liegt.

Nachdem in den zurückliegenden drei Jahren der Verbrauch an Arzneimitteln und Pillen aus Kassensicht in der Schweiz um rund 20 % angestiegen ist, war es der Sinn und Zweck der Forschungsarbeit, ein Nachschlagewerk zu realisieren, welches den Medikamenteneinsatz in der Schweiz beleuchtet. Rund zwei Millionen Schweizer, die bei der Helsana in der OKP (obligatorische Krankenpflegeversicherung) versichert sind, dienten als Grundstock der Erhebung, welcher um die Datenpools des Bundesamtes für Statistik der Schweiz ergänzt wurde. Die Daten verfügen laut den Gesundheitswissenschaftlern der Helsana über ein hohes Mass an Validität hinsichtlich der Konsumentwicklung sowie der Kosten und sollen dazu anregen, dass Diskussionen über den Nutzen und die Kosten von Medikamenten in der Schweiz entstehen.

Zudem entsteht durch den Bericht von mehr als 200 Seiten erstmals eine grosse Transparenz für die Öffentlichkeit, in welche Richtungen die Gelder der Krankenkassen fliessen. Und er dient als Gegengewicht zu den Berichten der Pharmaindustrie – über die Interpharma –, die bisher alleine die Kostenentwicklung der Medikamente in der Schweiz analysierte. Und das vermutlich ganz in ihrem Sinne.


Um 20 % sind die Medikamentenaufwendungen der Schweizer Versicherer in vier Jahren gestiegen. (Bild: Casper1774 Studio / Shutterstock.com)
Um 20 % sind die Medikamentenaufwendungen der Schweizer Versicherer in vier Jahren gestiegen. (Bild: Casper1774 Studio / Shutterstock.com)


Brisante Ergebnisse bei der Kostenentwicklung

Das Papier, welches in der 48. Kalenderwoche in der Schweiz vollständig veröffentlicht wird, legt die Kostenentwicklung bei den ambulant verschriebenen Medikamenten aus der Sicht der Krankenkassen offen. Den stationären Sektor, in welchem die Schweiz nicht nur mit steigenden Medikamentenkosten, sondern auch mit unnötigen Operationen zu kämpfen hat, blieb völlig aussen vor. Im ambulanten Sektor verzeichnet die Schweiz einen Anstieg der Kosten um 6,1 Milliarden Franken (rund 20 %) in den letzten vier Jahren. Damit haben diese ambulanten Produkte einen Gesamtanteil von knapp 10 % an den gesamten Kosten im Bereich des Gesundheitswesens, und es werden durch diese Medikamente rund 25 % des kompletten Prämienaufkommens der Schweiz verbraucht.

Als Motor für die Kostenexplosion ist nach Helsana die Steigerung der Zahlen von Medikamentenkonsumenten zuständig. Griffen 2010 noch rund fünf Millionen Schweizer zur Pille, waren es 2013 schon rund sechs Millionen. Doch nicht nur die Zahl der Konsumenten ist angestiegen, sondern auch die Menge an Pillen pro Kopf hat einen Zuwachs verzeichnet. Ein Grund dafür, so Helsana, ist möglicherweise das steigende Durchschnittsalter der Schweizer, da sich im Alter auch zunehmend chronische Krankheiten einstellen.

Anlass zur Sorge gibt den Krankenversicherern die Zunahme der Medikamente, die biotechnisch produziert werden müssen und dadurch im oberen Preissegment anzutreffen sind. Als Einsatzgebiet dieser Medikamente gilt die Behandlung von Krebs oder Autoimmunkrankheiten, und sie werden in Spitalambulatorien verabreicht. Die Gruppe der Konsumenten sei laut Helsana zwar „überschaubar“, aber durch die hohen Kosten der Medikamente würden die Sozialversicherungen hierüber stark beansprucht. Sollte der Trend in dieser Form eine Fortführung erfahren, sind nach der Ansicht von Helsana sogar die Finanzierbarkeit wie auch die Möglichkeit des Zugangs aller Patientengruppen zu diesen Therapien gefährdet.

Da die Zahlen, die Helsana ermittelt hat, gravierend von denen abweichen, welche von Interpharma seit Jahren kolportiert werden, steckt im neuesten Bericht eine ungeheure politische Durchschlagskraft. Vermittelt der Pharmaverband, die Ausgaben seien gleich geblieben, widerspricht Helsana diesen Aussagen energisch und liefert auch die passende Erklärung für Abweichungen: Seitens der Pharmakonzerne würden nur Fabrikpreise berechnet, Helsana jedoch arbeite mit den effektiven Verkaufspreisen, die der Patient auch bezahlen müsse und weiterreiche. Zudem zähle Interpharma den ambulanten Spitalbereich zum stationären Sektor, was aber laut Helsana nicht korrekt sei. Die Diskussionen nach diesem Bericht, auch und gerade in politischer Hinsicht, dürfen mit Spannung erwartet werden.

 

Oberstes Bild: © PavelIvanov – Shutterstock.com

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