Lehrplan 21: Garant modernen Unterrichts oder hohlphrasiges Kontrollinstrument?

„Inhaltsleerer Unterricht“, „Phrasendrescherei“, „Kontrollinstrument für Lehrer“: Der „Lehrplan 21“ steht stark unter Beschuss.

Mit dem Ziel der Harmonisierung der Lerninhalte zwischen den Kantonen ist das Projekt 2006 gestartet. Seit diesen Sommer liegt der Entwurf zur Konsultation vor, und seitdem reissen die kritischen Stimmen nicht ab. Was ist wirklich dran an den teils massiven Vorwürfen? Krempelt der Lehrplan 21 wirklich die gesamte Schweizer Schulkultur um?

Ruft man auf der Webseite des Lehrplans 21 die Rubrik „Ziele“ auf, werden einem durchweg hehre Motive vorgestellt: Da ist die Rede von „gemeinsamer Entwicklung von Lehrmitteln für die deutschsprachige Schweiz“, von einer Erleichterung des „Wohnortwechsels von Familien mit schulpflichtigen Kindern“ und einer „inhaltlichen Harmonisierung der Aus- und Weiterbildung der Lehrerinnen und Lehrer“. Tatsächlich sollte es in dem Projekt um die Harmonisierung der Ziele der Volksschule in der Deutschschweiz gehen, in Einklang mit der Bundesverfassung (Art. 62 Abs. 4). Tatsächlich aber sieht der aktuelle Entwurf nicht nur eine Vereinheitlichung, sondern auch eine massive Veränderung der Lernziele vor, hin zur so genannten „Kompetenzorientierung“.

Die Hintergründe der Kompetenzorientierung

Der Begriff „Kompetenz“ geistert seit gut 20 Jahren durch die Pädagogik. Von Wolfgang Klafki ins Gespräch gebracht, sollte er eine Dimension des Lernens eröffnen. Dem bis dato vorherrschenden Lernzielbegriff „Qualifikation“ lastete man an, einen zu engen Zusammenhang zwischen situativen Anforderungen und den personalen Voraussetzungen herzustellen. Sprich: Ein Schüler sollte nicht mehr lernen, einen formellen Brief zu verfassen („Qualifikation“), sondern die Fähigkeit einer „situationsgerechten Kommunikation“ („Kompetenz“) erwerben. Da Kompetenzen weiter gefasst sind als Qualifikationen, müssen sie auch immer etwas schwammig formuliert bleiben – und hier genau setzt einer der grossen Kritikpunkte am Lehrplan 21 an. Der Volkswirtschaftler Mathias Binswanger etwa hält die festgeschriebenen Kompetenzen für „intellektuell klingendes Geschwätz“, da das konkrete Wissen „zunehmend in den Hintergrund gedrängt“ werde (Weltwoche 27,13).

Problem Wissensbasis

Dabei ist der Erwerb von Kompetenzen, im Kontrast zum blossen auswendig Lernen toten Wissens, zunächst einmal zu begrüssen. Tatsächlich reicht blosse Informationsvermittlung in der Schule nicht aus, sondern muss immer mit dem Erwerb einer bestimmten, möglichst lebens-relevanten Fähigkeit verbunden sein. Dazu kann es nötig sein, den Lehrplan vom Stoffinhalt her zu reduzieren. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen jedoch, dass sich der Wissensinhalt des Unterrichts nicht beliebig zusammenstreichen lässt, ohne die Vermittlung der Kompetenzen und ihrer Cousins, der Methoden, ad absurdum zu führen. So ist es unmöglich, ethische Bewertungen ohne konkrete Fallbeispiele, das Wissen um philosophischen Traditionen und die Faktenlage vorzunehmen. In Bayern etwa hat man den 2003 flugs eingeführten neuen gymnasialen G8-Lehrplan nach und nach auf Druck der Elternverbände hin „entrümpelt“, bis die Lehrer feststellen mussten, dass man in Chemie die Schüler ohne die Vermittlung aus dem Curriculum gestrichenen Wissens einfach nicht zum Abitur führen kann. Denn die „kompetenzorientierten“ Prüfungsaufgaben verlangen doch eine Menge Hintergrundinformationen, die in den abgebildeten Tabellen und Diagrammen schlichtweg nicht enthalten sind. Kompetenzorientierung ohne (ausreichende) Wissensbasis ist nachts Autofahren mit Standlicht: Man sieht nur das Allernötigste und müsste ganz langsam fahren, um keinen Unfall zu bauen. So würden Schüler gemäß Lehrplan 21 das Diskutieren lernen, hätten aber ein so dünnes Allgemeinwissen, dass sie eigentlich im gesellschaftlichen Diskurs gar nicht mitreden könnten.

Sind Kompetenzen besser messbar?

Neben der Fokussierung auf das Wesentliche will die Kompetenzorientierung aber auch eine bessere Operationalisierung der Lernziele erreichen. Will heissen: Das, was die Schüler beherrschen sollen, wird in Begriffen möglichst messbarer Aktivitäten ausgedrückt. Hiess es früher „Die Schüler sollen wichtige Veränderungen und Entwicklungen in Städten erkennen können“, so lautet die kompetenzorientierte Formulierung „…charakterisieren können“. Was jemand erkennt, kann man kaum messen, eine Charakterisierung jedoch könnte zum Beispiel durch eine geeignete schriftliche Aufgabe bewertbar werden. Andere Kompetenzen freilich lassen sich kaum objektiv beurteilen, etwa emotionale (z.B. Empathie für Andere) oder charakterliche (z.B. richtige Selbsteinschätzung). Die Operationalisierung der Lernziele und Fähigkeiten hat flächendeckend zu einer stärkeren Aktivierung vernetzten Wissens geführt („Stelle einen Zusammenhang her zwischen dem Bau der Fischkiemen und deren Funktion“ verlangt dem Schüler einfach mehr ab als „Warum haben die Fischkiemen eine so grosse Oberfläche?“). Eine Überbetonung des Kompetenzmodells führt jedoch zu unnötigen Zwängen, da eine gute Lehrkraft diese sowieso durch ihre Unterrichtstätigkeit verfolgt – auch ohne kantonübergreifende Leistungstests.



Kompetenzorientierte Leistungstests als Kontrollinstrument

Warum aber soll überhaupt gemessen werden? Der Verdacht liegt nahe, dass es „um mehr Kontrolle der Berufsarbeit der Lehrpersonen durch bessere Steuerung“ des Bildungssystems“ geht, wie der Berner Erziehungswissenschaftler Walter Herzog in einem Leserbrief in der NZZ (02.10.13) schreibt. Die Vereinheitlichung und gleichzeitig Ent-Inhaltisierung der Lernziele lässt einen auch den Einfluss von EU, UNO und OECD wähnen. Der in deren Richtlinien immer wieder gebrauchte Begriff „Humanressource“ sollte jeden mündigen Bürger eigentlich zu einem empörten Aufschrei veranlassen. Menschen sind keine Ressource, sie sind einzigartige Wesen, die auch entsprechend ihrer individuellen Eigenarten geachtet und beschult werden sollten (Stichwort „Individuelle Förderung“).

Schweiz, bleibe dir selbst treu!

Insgesamt lässt sich sagen, dass der Lehrplan 21 eine nicht transparent kommunizierte Grundreform des Schweizer Schulsystems darstellt. Demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten gab und gibt es – entgegen eidgenössischem Selbstverständnis – kaum. Zudem läuft die Schweiz wirklich Gefahr, durch die Verschiebung des Fokus von inhaltlichem Wissen hin zu schwammigen „Kompetenzen“ einen Teil ihrer Nationalidentität zu verlieren. Schweizer Geschichte, Politik und Weltsicht lassen sich halt nicht ohne ein Eintauchen in die Materie vermitteln. Auf einen Punkt gebracht: Harmonisierung und Operationalisierung: Ja – Entleerung des Lehrplans und Gleichschaltung mit internationalen Bildungsstandards: Nein danke!

Titelbild: © Andrey Kiselev – Fotolia

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