Wie ein Schädel die Humanevolution auf den Kopf stellt
von Alin Cucu
Von den Urmenschen gab es viele Arten, die sich, aus afrikanischen Primaten entstanden, über die ganze Welt verbreiteten. Diese Ansicht könnte bald der Vergangenheit angehören.
Forscher um den Schweizer Anthropologen Christoph Zollikofer haben in Dmanisi (Georgien) einen Schädel gefunden, der eindeutig menschlich ist, aber nicht so recht ins bisherige Bild passen will. Der Fund stellt die bisherige Lehrmeinung in Frage – er erlaubt aber vor allem auch einen tiefen Blick in eine Wissenschaft, deren Ergebnisse so einflussreich wie spekulativ sind.
Paläoanthropologen befassen sich mit Knochen. Mit menschlichen Knochen, um genau zu sein – mit alten menschlichen Knochen, sehr alten. Manchmal gehen die Forscher in ihrer Zeitreise sogar so weit zurück, dass sie dabei einen Affen erwischen. Das ist allerdings in ihrem Sinne, weil sie davon ausgehen, dass die Menschen von Primaten abstammen. Allein für die Erforschung der menschlichen Geschichte müssen die Paläoanthropologen je nach Lehrmeinung (radiologische) 4 bis 7 Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen – und haben dabei für die Rekonstruktion des Evolutionsablaufs gerade mal ein paar hundert Fossilien zur Verfügung, die oft aus nicht mehr als einem Zahn bestehen.
Christoph Zollikofer von der Universität Zürich hat mit seinem georgischen Kollegen David Lordkipanidze etwas viel Besseres gefunden: einen ganzen Schädel. Das Artefakt mit der Nummer D4500 wurde auf 1,8 Millionen Jahre datiert und ist nicht nur gut erhalten, sondern auch in guter Gesellschaft. In nächster Umgebung wurden nämlich weitere vier Schädel sowie Rumpf- und Beinskelette gefunden, die alle aus ziemlich genau der gleichen Zeit stammen. Das Revolutionäre an dem Fund: Die Schädel weisen so grosse Unterschiede in ihren Merkmalen auf, dass sie „wahrscheinlich zwei verschiedenen Arten zugeordnet worden“ wären, hätte man sie separat gefunden, so Zollikofer. Ihre Merkmals-Bandbreite ist jedoch nicht grösser als die heutiger Menschen.
Dieser Befund veranlasst Zollikofer und Lordkipanidze im renomierten Wissenschafts-Magazin „Science“ zu einer fast ketzerischen Aussage: Nicht nur die Dmanisi-Urmenschen, sondern auch alle anderen Menschen aus jener Zeit haben einer Art angehört. Diese globale „Paläopopulation“ wäre am ehesten mit der bereits beschriebenen Spezies Homo erectus in Übereinstimmung zu bringen, da diese die am besten dokumentierte Urmenschen-Art ist. Damit würden Homo rudolfensis, Homo habilis, Homo ergaster, Homo erectus und der etwas später auftretende Homo heidelbergensis zu einer einzigen Spezies verschmelzen.
„Derzeit gibt es so viele Arten wie es Wissenschaftler gibt, die sich damit beschäftigen“, sagt die Mitautorin Marcia Ponce de León von der Universität Zürich. Aber wie kann das sein? Führt man sich die eingangs beschriebene Faktenlage der Forscher vor Augen, wird es klar. Die Datenbasis der Paläoanthropologen ist extrem dünn. „Die Bestimmung von fossilen Homo-Spezies ist ein klassisches Huhn-Ei-Problem: Spezies werden um Einzelfunde herum konstruiert, und die Paläoanthropologen gehen in der Regel davon aus, dass solche Einzelfunde repräsentativ für ihre Spezies sind“, sagt Zollikofer. Auch Ottmar Kullmer von der deutschen Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung zweifelt an, dass die bisherige Artenvielfalt in der Paläoanthropologie realistisch ist. Angesichts der Merkmalsvariation der Dmanisi-Funde „fragt man sich schon, ob es berechtigt ist, hier wie bisher von unterschiedlichen Arten zu sprechen“, so der Wissenschaftler.
Die Paläoanthropologie – mehr fröhliches Evolutions-Storytelling denn Wissenschaft? D4500 macht jedenfalls einmal mehr klar, dass die dünne Datenbasis der Humanevolutions-Forscher alles andere als belastbar ist und deswegen immer wieder ein Umschreiben der Evolutionsgeschichte nötig macht. Soweit nichts Neues. Aber: Der Dmanisi-Schädel offenbart auch, wie sehr unser Bild der biologischen Menschwerdung vom Gutdünken einzelner Wissenschaftler abhängt, die ihre Version der Geschehnisse an einem einzigen Schädel, Kiefer oder Oberarmknochen festmachen wollen, welcher eine Periode von ungefähr 500’000 Jahren repräsentieren soll. Kullmer geht sogar noch weiter: „Wir haben es hier nicht mit biologischen Arten zu tun, sondern verteilen Labels nach eigener Definition“. Die Zunft der Paläoanthropologen müsse sich eingestehen „keine Ahnung“ von der Vielfalt der Urmenschen zu haben.
Trotzdem sind Schule und Medien weiter voll von gezeichneten oder animierten Bildrekonstruktionen der vermeintlich primitiven Frühmenschen. Eine geradezu fantastische Karriere hat hier etwa der Neandertaler hingelegt. In den 80er Jahren noch als Halbaffe dargestellt, avancierte er bis zuletzt zum transzendent denkenden Künstler mit ausgefeilter Sprachfähigkeit. Noch viele andere Geschichten lassen sich vom Aufstieg und Fall grandioser paläoanthropologischer Theorien erzählen. Vom „Piltdown-Menschen“ etwa, der sich als Fälschung erwies, oder vom sich nach wie vor hartnäckig haltenden Homo rudolfensis/habilis, der eigentlich bereits 1999 von Wood und Collard bereits als Australopithecus – also als nicht-menschlich – reklassifiziert wurde.
Nur eines zementiert sich immer mehr: Die Kluft zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Fossilien. Der Missing Link ist nach wie vor nicht in Sicht, und es scheint so, dass es wohl nie gefunden werden wird. Müssen wir komplett umdenken? Gab es vielleicht gar keine Humanevolution in dem Sinne, wie wir es gemeinhin annehmen – also eine langsame Entwicklung vom schimpansenähnlichen Affen über Australopithecinen wie „Lucy“ und primitive Menschen hin zum Homo sapiens? Die Knochen tragen leider keinen Pass mit sich. Wir können angesichts der neuesten Funde nur eines tun: Die grossspurigen Verkündigungen der Paläoanthropologie mit Vorsicht geniessen.
Titelbild: Die klassische Auffassung der menschlichen Evolution könnte bald Geschichte sein © adrenalinapura – Fotolia