Gutachten: Psychiatrie statt Haft für Breivik?

Bleibt dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik (32) eine Haftstrafe erspart – und wird er stattdessen in eine Psychiatrie eingewiesen?

Dazu könnte es durch ein Gutachten kommen, das am Dienstagmorgen beim zuständigen Gericht in Oslo eingereicht wurde.

Darin erklären die beiden Rechtspsychiater Torgeir Husby und Synne Sørheim, dass Breivik zum Tatzeitpunkt wegen einer Psychose unzurechnungsfähig gewesen sei. Dem rechtsradikalen Terroristen bescheinigen die Gutachter eine paranoide Schizophrenie. Er lebe in einem wahnhaften Universum, das seine Gedanken und Handlungen beherrsche. Danach glaube er, über Leben und Tod entscheiden zu können.

Am 22. Juli 2011 hatte der Islamhasser und Rechtsradikale auf der Insel Utøya 69 Jugendliche erschossen und zuvor im Regierungsviertel von Oslo durch eine Bombe acht Menschen getötet. Zur Begründung gab Breivik Hass auf muslimische Migranten und norwegische Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft an.

Gericht muss nun entscheiden

Sollte sich das zuständige Gericht der Auffassung der Psychiater anschliessen, kann Breivik nicht zu einer Haftstrafe verurteilt werden. Im Höchstfall drohen ihm 21 Jahre Gefängnis – mit anschliessender Verwahrung bei fortgesetzter Gefahr für die Gesellschaft. Per Beschluss könnte der 32-Jährige nun stattdessen auf unbestimmte Zeit in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht werden. Alle drei Jahre müsste erneut seine Gefährlichkeit überprüft werden.

Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit ändert nichts am weiteren Fortgang des Verfahrens. Wie geplant, soll der Prozess ab dem 10. April 2012 stattfinden. Er soll in etwa so ablaufen, als sei Breivik für zurechnungsfähig erklärt worden, erklärte Staatsanwältin Inga Bejer Engh.

Darüber, dass Breivik strafrechtlich nun möglicherweise nicht belangt werden kann, reagierten Hinterbliebene und Überlebende der Anschläge in Osloer Medien entsetzt und enttäuscht. Auf Widerspruch stösst das Gutachten aber auch beim „Schlächter von Norwegen“ selbst. Er fühle sich gekränkt und wolle nicht akzeptieren, für unzurechnungsfähig erklärt zu werden, liess er über Polizeianwalt Christian Hatlo im Radiosender NRK wissen.

In seinem wirren Manifest „2083. Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“ hat Breivik den jetzt eingetretenen Fall offenbar vorhergesehen und geschrieben: „Sie werden mich für verrückt erklären. Glaubt es nicht.“ Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt Mitte November hatte er sich vor Gericht als „Tempelritter“ und „Kommandeur im norwegischen Widerstand“ bezeichnet. Seine Taten hatte er zwar gestanden, sich aber zugleich als nicht schuldig bekannt.

Besonnene norwegische Justiz

Kommentar: Seine unvorstellbare Bluttat hat Breivik jahrlang systematisch geplant und vorbereitet. Und dennoch soll dieser Mann zum Tatzeitpunkt nicht „Herr seiner Sinne“, somit schuldunfähig, gewesen sein? Für den Laien ist dies schwer nachvollziehbar, und es ist nur allzu verständlich, dass Angehörige der Opfer und Überlebende dies wie einen Schlag ins Gesicht empfinden müssen.

Bei aller Irritation ist jedoch die Besonnenheit der norwegischen Justiz zu loben, die dem beispiellosen Wüten des Täters nicht mit Rache oder Vergeltung antwortet, sondern streng nach Recht und Gesetz vorgeht. Dazu gehört auch, dass zur Urteilsfindung ein psychiatrisches Gutachten erstellt wird. Ob das Gericht diesem folgen wird, bleibt nun abzuwarten.

Dass dem Massenmörder ein Gefallen getan wird, wenn man ihn für unzurechnungsfähig erklärt, ist nicht zu befürchten. Ganz im Gegenteil scheint genau dies Breiviks grösste Sorge zu sein. Offenbar steckt dahinter seine Furcht, dass man ihn womöglich nicht ernst nimmt und seine „politischen Ideen“ als genau das sieht, was sie in der Tat sind: nämlich Wahnideen. Wahrscheinlich würde sich Breivik lieber in der Haft als angeblicher „Märtyrer“ stilisieren, als durch die Unterbringung in einer Psychiatrie als „Verrückter“ zu gelten.

Für die Gesellschaft ist letztlich entscheidend, dass ihr vor Breivik wirksamer Schutz geboten wird – und zwar auf Dauer. Ob dies durch eine lebenslange Haft oder eine dauerhafte Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie geschieht, erscheint fast sekundär.

 

Titelbild: „Flower march“ im Osloer Zentrum vom Juli 2011. Es nahmen 200’000 Menschen teil. (Mathias-S / Wikimedia / CC)

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