Fakten und Zahlen zur Flüchtlingskrise: Woher die Migranten kommen
von Janine El-Saghir
Das vergangene Wochenende könnte eine Zäsur in der europäischen Flüchtlingspolitik markieren. Vor der lybischen Küste starben am Sonntagmorgen mindestens 900 Menschen, die versuchten, auf einem überladenen Trawler die italienische Küste zu erreichen.
Schon am folgenden Montag gab es mehrere Beinahe-Katastrophen, die Mehrheit der in Seenot geratenen Flüchtlinge vor Malta sowie vor Rhodos konnte diesmal jedoch gerettet werden. Angesichts der Flüchtlingsströme werden die europäischen Länder nicht umhinkommen, ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik zu überdenken.
Auch die Schweiz ist hier in der Pflicht – durch die Schengen- und Dublin-Abkommen ist sie in das Asyl- und Grenzsystem der Europäischen Gemeinschaft vollständig eingebunden. Bei den europäischen Politikern dominiert derzeit Betroffenheitsrhetorik, schnelle Lösungen für das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer sind jedenfalls nicht in Sicht. Fakten und Zahlen über die Entwicklung der Zahlen und Routen der Flüchtlinge zeigen, wie komplex die Problematik ist.
Im vergangenen Jahr sind die Flüchtlingszahlen explodiert
Die Zahlen der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer sind in den letzten Jahren rasant gewachsen. Zwei Gründe dafür sind die Konflikte in Syrien und im Irak, durch die in den vergangenen Jahren mehrere Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage verloren haben. Nur ein geringer Teil von ihnen schafft es nach Europa, die meisten von ihnen sind Binnenflüchtlinge oder wurden von den Nachbarländern – vor allem Jordanien, der Türkei und Libanon – aufgenommen. Trotzdem nimmt die Zahl der Bootsflüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten kontinuierlich zu. Auch der „Arabische Frühling“ und andere Konfliktherde haben jedoch die Flüchtlingszahlen in die Höhe schnellen lassen.
Noch 2010 hatten sich „nur“ etwa 10’000 Menschen zur Flucht über das Mittelmeer entschlossen, 2011 waren es bereits rund 70’000. In den Jahren 2012 und 2013 hatte sich ihre Zahl auf 22’000 respektive 60.000 belaufen. Im vergangenen Jahr sahen dagegen 218’000 Menschen keine andere Chance, als ihr Leben Schlepperbanden und oft nahezu schrottreifen Booten anzuvertrauen – über die Hälfte von ihnen kam laut UN-Angaben aus Syrien und Eritrea. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex rechnet damit, dass sich 2015 zwischen 500.000 und einer Million Menschen für diesen Weg entscheiden werden.
Die Hauptroute – von der libyschen Küste nach Italien
Die europäischen Grenzschützer identifizieren drei grosse und zwei kleine Mittelmeer-Routen, auf denen die Boat People nach Europa kommen – je nach Route unterscheiden sich die Herkunftsländer der Migranten. Die wichtigste Flüchtlingsroute führt von Nordafrika – meist von Libyen – nach Italien oder Malta. Innerhalb der EU-Staaten hat Italien derzeit die weitaus höchste Flüchtlingslast zu tragen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) gibt an, dass in Italien im letzten Jahr über 170’000 Bootsflüchtlinge gelandet sind. Pro Tag kamen dort über 460 Personen an – in Malta im gesamten Jahr 2014 dagegen nur 570 Menschen. Die zentrale Mittelmeerroute war im vergangenen Jahr für 40’000 Syrer und etwa 33’000 Eritreer der Fluchtweg nach Europa.
Im März 2015 haben sich die Relationen der Herkunftsländer jedoch verschoben, inzwischen sind auf dieser Strecke Menschen aus Gambia, Somalia und dem Senegal die grössten Flüchtlingsgruppen. Flüchtlinge, die die EU-Grenzen über Apulien und Kalabrien erreichen, zählt Frontex seit dem vergangenen Jahr nicht mehr separat, sondern führt sie in der italienischen Gesamtstatistik auf. Im Jahr 2013 waren rund 5.000 Bootsflüchtlinge auf diesem Weg gekommen. Viele von ihnen stammen aus Syrien, aber auch aus dem Irak, Pakistan und Bangladesch. In der Regel waren sie zuvor zunächst über Ägypten und die Türkei nach Griechenland geflohen. Die Route über das Ionische Meer garantiert zwar ebenfalls keine sichere Überfahrt, ist jedoch weniger gefährlich als die Libyen-Strecke, da die Schlepper hier zur besseren Tarnung häufig Segelyachten nutzen. Andere Gruppen überqueren das Mittelmeer auf grossen Schlepperbooten und werden vor der Küste in Fischerboote umgeladen.
Flüchtlinge in Griechenland – ein Plus von 280 Prozent gegenüber 2013
Die östliche Mittelmeerroute bereitet vor allem Griechenland Probleme. Der Migrantenzustrom über das Meer hat sich verstärkt, nachdem die Grenze zur Türkei durch einen Zaun gesichert wurde. 2014 erreichte er laut Frontex die Zahl von 43’500 Menschen – im Vergleich zum Vorjahr ein Plus von 280 Prozent. Insgesamt kamen auf dieser Route im vergangenen Jahr etwa 50’000 Menschen nach Europa, weitere Einreiseländer waren neben Griechenland auch Bulgarien und Zypern. Über 31’000 von ihnen waren Syrer, die zweitgrösste Flüchtlingsgruppe – mehr als 12’000 Personen – kam aus Afghanistan.
Die Zahl der Boat People in Spanien stieg 2014 wieder an
Vergleichsweise gering ist die Zahl der Migranten, die über die beiden westlichen Routen in die EU gelangen. Von Nordafrika nach Spanien flüchteten nach den Angaben von Frontex im letzten Jahr exakt 7.842 Menschen. Die Agentur rechnet hier auch diejenigen Migranten mit, die in den nordafrikanischen spanischen Exklaven Ceuta und Mellila EU-Territorium erreichten. Die drei grössten Flüchtlingsgruppen auf dieser Route stammen aus Kamerun, Algerien und Mali. Bedingt durch die spanische Wirtschaftskrise hatte die Zahl der Flüchtlinge hier in den Jahren 2011 bis 2013 abgenommen, aufgrund der zahlreichen Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent stiegen sie 2014 jedoch wieder an. Die am seltensten genutzte Route der Boat People führt nicht über das Mittelmeer, sondern von Marokko und Westafrika über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln. Im vergangenen Jahr sind dort jedoch nur 276 Migranten angekommen, die überwiegend aus Marokko, Senegal und Guinea stammten.
Die Zahl der Toten steigt dramatisch
Die weitaus meisten Flüchtlinge, die in der gefährlichen Reise über das Mittelmeer ihre einzige Chance sehen, sind Männer. Für das Jahr 2014 weisen die italienischen Behörden 125’790 männliche Flüchtlinge aus, ausserdem kamen 18’200 Frauen und über 26’000 Kinder. 50 Prozent der Kinder waren unbegleitet unterwegs. Dramatisch entwickelt sich die Zahl derjenigen, die ihre Reise in ein erträumtes besseres Leben mit dem Tod bezahlen mussten: Im vergangenen Jahr kamen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer 3’500 Menschen um – deutlich mehr als jeder hundertste Flüchtling. Aktuelle UNO-Zahlen weisen aus, dass von bisher etwa 35’000 Flüchtlingen, die 2015 aus Nordafrika nach Europa aufgebrochen waren, 1’600 Menschen ertrunken sind. Schon vor der Flüchtlingskatastrophe vom letzten Wochenende war die Zahl der Toten 30 Mal höher als in den ersten vier Monaten des Vorjahrs. Ihren Höhepunkt erreicht die „Fluchtsaison“ jedoch sehr wahrscheinlich erst im Sommer.
Die Flüchtlingskrise ist eine Dimension der Globalisierung
Die Europäische Union hat bisher mehr oder weniger versucht, die Flüchtlingskrise auszusitzen. Die italienische Rettungsmission Mare Nostrum wurde im Oktober 2014 eingestellt, da die EU das Programm nicht weiter finanzieren wollte. Nach eigenen Aussagen nahmen die EU-Politiker an, dass die Mission den Abschreckungseffekt für die Flüchtlinge verringern würde – bewahrheitet hat sich diese These angesichts der aktuellen Flüchtlingszahlen nicht. Die Nachfolgemission „Triton“ dient vor allem Grenzschutzzwecken. Sie ist technisch und personell eher spärlich ausgestattet, woran auch die geplante sehr moderate Aufstockung nichts ändern wird. Dass Grenzschutz respektive Abschottung keine probaten Mittel gegen die Flüchtlingswellen sind, ist spätestens nach den aktuellen Ereignissen nicht mehr übersehbar. Einerseits brauchen die EU-Mittelmeeranrainer bei ihrer alltäglichen Bewältigung internationale Unterstützung, vor allem aber müssen sich die Verhältnisse in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ändern. Auch die Flüchtlingskrise ist eine Dimension der Globalisierung, gelöst werden kann sie nur durch strukturelle Änderungen in der globalen Politik und Wirtschaft. Bei den Entscheidungsträgern in den entwickelten Nationen ist diese Botschaft allerdings bisher noch nicht wirklich angekommen.
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