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Physik-Nobelpreis: Die Mär vom „Gottesteilchen“

09.10.2013 |  Von  |  Beitrag

Der diesjährige Physik-Nobelpreis geht an Peter Higgs und François Englert. Die beiden betagten (80 bzw. 84 Jahre) Wissenschaftler erhalten ihn für die Voraussage des Higgs-Boson, auch „Gottesteilchen“ genannt.

Da wurde die Weltformel gefunden, könnte der Laie glatt meinen, wenn er so einen vollmundigen Begriff hört. Ist es wirklich gerechtfertigt, das letzten Juli entdeckte Elementarteilchen mit einer quasi-religiösen Aura zu umgeben?

Zur Klärung: Gefunden haben das Teilchen Wissenschaftler am CERN in Genf. Vorausgesagt haben es Higgs und Englert aber schon vor fast 50 Jahren. Es ist Teil eines immer umfassenderen Theoriegebäudes, welches die Welt der kleinsten Partikel immer einheitlicher erklärt – jener Partikel, aus denen unsere Welt im Innersten besteht, also Protonen, Elektronen und Neutronen (welche die Atome formen), Photonen und Neutrinos und viele andere. Dabei werden, grob gesagt, die Teilchen nicht mehr als kleine „Billardbälle“ beschrieben (wie man vielleicht Elektronen und Protonen noch in der Schule dargestellt bekommt), sondern als angeregte Zustände von Quantenfeldern. Das Higgs-Boson ist deswegen so wichtig, weil es in Kombination mit dem ihm zugrunde liegenden Higgs-Feld erklärt, warum andere Elementarteilchen überhaupt eine Masse haben.

So viel zum physikalischen Hintergrund – oder verstünden Sie es, wenn jetzt weiter von starker und schwacher Wechselwirkung, von Quarks, Gluonen und Eichbosonen die Rede wäre? Die meisten Nicht-Quantenphysiker müssen hier passen, also (statistisch nicht verifizierte) 99 % der Leser von Tageszeitungen. Dennoch wird ihnen das Higgs-Boson als „Gottesteilchen“ und unglaublich wichtige Entdeckung präsentiert, obwohl kaum einer die Materie auch nur ansatzweise versteht. Am besten schon mal einen vorsorglichen Kniefall hinlegen vor den Halbgöttern, die mit ihrer Theorie Gott (oder dem, was Menschen so nennen?) auf die Schliche gekommen sind?

Peter Higgs höchstpersönlich lehnt die Bezeichnung „Gottesteilchen“ ab, weil sie die Gefühle religiöser Menschen verletzen könnte. Higgs ist nüchterner Naturwissenschaftler: Eine Überhebung der Physik über ihre Grenzen hinaus ist ihm fremd. Aber woher kommt dann dieses „Buzzword“? Leon Max Lederman, seinerseits Nobelpreisträger, schrieb Anfang der 90er Jahre ein Buch über die Suche nach dem Higgs-Boson mit dem Titel The goddamn particle („Das gottverdammte Teilchen“). Sein Verleger zwang ihn jedoch dazu, das Werk in The God Particle: If the Universe Is the Answer, What Is the Question? umzubenennen. So wurde aus Verzweiflung über das hartnäckig unauffindbare fehlende Teilchen im Handumdrehen die Suche nach dem Urgrund allen Seins.

Damit steht das Higgs-Boson in einer Reihe mit anderen völlig überschätzten wissenschaftlichen Entdeckungen. Der Fund von Wasser auf dem Mars (zuletzt Ende September bestätigt) wurde und wird zum sicheren Beleg für ausserirdisches Leben hochstilisiert. Ein organische Verbindungen enthaltender Asteroid wurde gleichsam zur Brutstätte extraterrestrischer Intelligenzen erklärt. 2010 titulierten die Medien Craig Venter als Ex-Nihilo-„Schöpfer“ eines Bakteriums. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppen sich alle diese Meldungen eher als Fliegen denn als Elefanten: Von Wasser und selbst von organischen Verbindungen bis zu Lebewesen ist es so weit wie von einer Metallmine zu einem fertigen Auto. Und Venter machte nichts weiter als ein von einer anderen Bakterienart modifiziertes Genom in eine bereits bestehende Zelle einzupflanzen.



Vorsicht also bei hochtrabenden Meldungen aus der Wissenschaftsszene – wobei: richtig reisserisch stellen sich die Forscher selbst meist gar nicht dar. Es ist die populär- oder auch gar nicht wissenschaftliche Presse, welche, wohl meist in Unkenntnis der Sachlage, die Wichtigkeit der Entdeckungen aufbauscht. Der wissenschaftlichen Leistung von Higgs und Englert tut dies keinen Abbruch – Gott wird man aber weiterhin woanders suchen müssen.

 

Titelbild: Simulation des Zerfalls eines Higgs-Bosons. © Lucas Taylor / Wikimedia / CC

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