Schweizer sind gestresst, aber glücklich
Stressless war gestern. Heute fühlt sich mindestens jeder sechste Schweizer am Arbeitsplatz gestresst. Und sogar jede fünfte Eidgenosse meint, er habe psychische Probleme.
Dennoch schätzen um die 90% der Schweizer Einwohner Ihre Lebenssituation insgesamt als gut bis sehr gut ein. Ob sich hier ein wirklicher Widerspruch auftut oder die Zahlen doch zusammenpassen, lässt sich nur vermuten.
Stress ist Ansichtssache und regulierbar
Was Stress ist, wird in vielen Büchern und auf noch mehr Internetseiten mal so und mal so beschrieben. Eine feststehende Definition beispielsweise der Weltgesundheitsorganisation (WHO) scheint es nicht zu geben. Nach ähnlichen oder übereinstimmenden Charakterisierungen unterschiedlicher Stressforscher lässt sich Stress als ein menschlicher Zustand der Alarmbereitschaft vor dem erwarteten Erbringen individuell aussergewöhnlicher Leistungen beschreiben.
Letztlich ist aber die individuelle Wahrnehmung von Stress doch eher stark abweichend. Während junge Leute schon beim morgendlichen Frühstück von Stress reden, bleiben ältere Menschen sogar oftmals in Situationen unbeeindruckt gelassen, die dem einen oder anderen den Schweiss aus den Poren treibt. Stress ist also in der Wahrnehmung individuell und er ist regulierbar.
Stress machen und Stress vermeiden
Aus der Gesundheitsumfrage 2012 des Bundesamtes für Statistik geht hervor, dass sich 17% der Erwerbstätigen am Arbeitsplatz permanent unter Stress fühlen. Hier stellt sich zunächst die Frage: Wer macht diesen Stress? Was ist es, was die Betroffenen angeblich permanent in Alarmbereitschaft versetzt? Entgegen weit verbreiteter Meinungen sind es weder die Chefs, noch ein grösserer Druck durch Arbeit.
In den meisten Fällen ist es lediglich die Aussicht darauf, mit dem geforderten Arbeitspensum nicht klar zu kommen, was Stressgefühle auslöst. Dazu kommt oftmals ein gewisses Mass an Überforderung, dann nämlich, wenn der gewählte Arbeitsplatz nicht zur Qualifikation der Erwerbstätigen passt. Der Stress auf Arbeit ist hier also meist hausgemacht. Interessant ist auch, dass sich entsprechend der Umfrage 18% der Beschäftigten am Arbeitsplatz emotional verbraucht fühlen.
Wie bitte? Arbeitnehmer fühlen sich auf ihrem Arbeitsplatz gefühlsmässig leer und bezeichnen das als Stress? Dann ist wohl die Sichtweise auf die Arbeit selbst gefährdet und bedarf einer Überprüfung. Der Arbeitsplatz ist vor allem ein Bereich, der von den sachlichen Umständen der Leistungserbringung, weniger von Gefühlen dominiert sein sollte. Hier lohnt es sich sicherlich, den Stellenwert des Arbeitsplatzes in der emotionalen Ausstattung des Menschen neu zu bewerten.
Übrigens lässt sich Stress auch gut vermeiden. Dann nämlich, wenn sich der einzelne psychisch abgeklärt auf seine bevorstehenden Aufgaben vorbereitet und besonders die berufliche Arbeit mehr als Herausforderung, nicht aber als Stressfaktor begreift. Den meisten Stress machen sich Menschen selbst. Beispielsweise auch dann, wenn sie glauben für berufliche Belange rund um die Uhr erreichbar sein zu müssen.
So etwas nehmen Vorgesetzte und Arbeitgeber aber auch Kollegen sehr gern auf und nutzen diese Option gern auch über Gebühr. Nach meiner Auffassung muss ein Grossteil der Arbeitnehmer seine privaten Kontaktdaten nicht zwingend im Betrieb hinterlassen. Immerhin hat die Masse der Arbeitnehmer eine geregelte Arbeitszeit und die sollte für die vertragsgemässe Leistungserbringung ausreichend sein. Dann bleibt der berufliche Stress nämlich auch dort, wo er hingehört, nämlich im Betrieb.
Gestresst, aber glücklich
Völlig gegenläufig scheint die Aussage, dass sich neun von zehn Schweizern allgemein in ihrer Lebensqualität bei gut bis sehr gut wiederfinden. Da kann es ja mit dem geäusserten permanenten Stress doch nicht so weit her sein. Oder wird der berufliche Stress vielleicht völlig überbewertet, weil die Angst vor dem Versagen sich bis in den Bereich von Familie und Freizeit zieht? Letzteres scheint insofern plausibel, als dass sich der Umfrage zufolge immerhin 18% der Einwohner als mit psychischen Problemen belastet fühlen.
Immerhin 6% klagen über Depressionen, wobei es letztlich aber nur 4,7% der Bevölkerung wirklich bis zur Diagnose durch den Psychologen oder den Facharzt bringt. Ungefähr 4% greifen zu Antidepressiva, dabei signifikant mehr Frauen als Männer. Interessant auch, das sich depressive Symptome bei jüngeren Leuten (10%) deutlich häufiger zeigen, als in der älteren Vergleichsgruppe (3%). Das lässt den bereits oben erwähnten Schluss zu, dass reifere Schweizer deutlich stressresistenter sind, als ihre nachfolgenden Generationen. Und das hat mit Sicherheit auch etwas damit zu tun, was der Einzelne als Stress empfindet.
Dennoch ist es wohltuend zu lesen, dass sich die übergrosse Mehrheit der Schweizer (90%) in ihrer Lebensqualität gut bis sehr gut fühlt. Dabei bleibt auch hier statistisch unermittelt, was der einzelne unter Lebensqualität versteht und wie diese sich im Alltag äussert. Gestresst aber glücklich – das ist letztlich das Fazit der Gesundheitsumfrage 2012 des Bundesamtes für Statistik, zumindest auf den Faktor Stress bezogen.
Übrigens kann Stress auch durchaus positiv wirken. Dann nämlich, wenn aus der besonderen Anforderungssituation mit der gesteigerten Leistungserwartung wirklich auch höhere Erfolge erzielt werden. Bestes Beispiel dafür sind Sportler, die diesen gesunden Stress der Wettkampfsituation so für sich ausnutzen, dass sie zusätzliche Reserven für noch bessere Leistungen freigeben können. Und das funktioniert im Übrigen auch am Arbeitsplatz, sofern der vermeintlich Gestresste wirklich einer besonderen Anforderungssituation ausgesetzt ist und sich dieser mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch stellt. So kann ein gesunder Stress fast schon befreiend produktiv wirken.
Oberstes Bild: © dotshock – Shutterstock