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Heilende Vergebung – erleben wir einen globalen Bewusstseinswandel?

24.12.2014 |  Von  |  Beitrag

“Die Kraft der Vergebung” lautet der Titel der “Stern”-Ausgabe vom 17.12.2014. Überraschend für eine eher linksorientierte Zeitschrift, die mit Kritik an allem, was religiös oder gläubig ist, nicht gerade spart.

Doch die Titelstory des deutschen Nachrichtenmagazins ist bei näherem Hinsehen nur die Spitze des Eisbergs. Vielerorten dämmert offenbar die Erkenntnis: Vergeben tut gut, vergeben heilt, und zwar unabhängig von Glaubensbekenntnissen. Es scheint, dass hinter der Kraft der Vergebung ein Naturgesetz steht.


Mangelnde Fehlerkultur

Wir haben keine Fehlerkultur.

Das stellte der bekannte Benediktinermönch Anselm Grün vor viereinhalb Jahren fest. Anlass war unter anderem die mediale Zerpflückung des damaligen deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Es sei “die Schmerzgrenze des Beschuldigens bei einigen Politikern überschritten worden”, so der katholische Geistliche. Seine Diagnose: “Es gibt keine Kultur der Vergebung.”

Diese im Juni 2010 geäusserten Bedenken sollten sich wenig später auf dramatische Weise bewahrheiten, als Köhlers Nachfolger Christian Wulff wegen einer vermeintlichen Bestechungsaffäre derartig in den Fleischwolf von Bild & Co. geriet, dass ihm nichts anderes als der Rücktritt übrig blieb. Da waren auch viele Bürger schnell zur Stelle mit ihrem Urteil, Wulff habe sich bestimmt bestechen lassen, was für einen Landesvater mit Vorbildfunktion gar nicht gehe. Heute steht fest: Das Verfahren wegen Bestechlichkeit gegen Wulff wurde eingestellt, am Ende waren die Vorwürfe auf einen Betrag von etwas über 700 Euro zusammengeschmolzen.

Als der ehemalige FC Bayern-Präsident Uli Hoeneß dieses Jahr wegen deutlich höherer Steuerhinterziehung zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, waren die verbalen Scharfrichter wieder zur Stelle. Doch mir schien beim Durchforsten der Medien, dass die mahnenden Stimmen mehr geworden waren. Er hatte den Fehler ja eingestanden; ob man es nicht dabei belassen könne?

Vergeben heisst nicht vergessen

Wenn wir vergeben, entschuldigen wir nicht, was der Andere getan hat,
sondern wir blicken weiter und anerkennen die Wahrheit seines Seins.

Vielleicht waren viele unnachgiebige Zeitgenossen dem Trugschluss aufgesessen, Vergebung bedeute, das Unrecht zu vergessen oder gar zu leugnen. “Ver-gebung” trägt schon etymologisch in sich, dass nichts vergessen oder geleugnet wird. “Ver” steht als Vorsilbe für “komplett, vollständig”, “ver-geben” heisst also das erlittene Unrecht vollkommen aus der Hand zu geben bzw. nicht mehr wie eine Anklageschrift oder eine Waffe gegen den anderen zu verwenden. Das wird interessanterweise auch im englischen “to forgive” oder dem französischen “perdonner” deutlich.

“Vergeben geschieht durch Loslassen, nicht durch Vergessen” schreibt die österreichische Mentaltrainerin Stella Mandusic folgerichtig weiter. Als Beweggrund für die Vergebung präsentiert sie jedoch nicht den Gehorsam gegenüber Gott, sondern unser eigenes Wohlbefinden: “Wenn wir vergeben, neutralisieren wir negative, feindselige Gedanken und Gefühle. Sie haben keine Macht mehr über uns.”



Vergebung ist heilsam

Vergebung als Psychohygiene? Obwohl der Gedanke nicht ganz neu ist, scheint er in den letzten Jahren von immer mehr Therapeuten und Theologen aufgegriffen zu werden. Der Engländer Colin Tipping hat es gar zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Menschen zur Vergebung anzuleiten und sie dadurch zu befreien. So hat er nach eigenen Angaben bei seiner Arbeit mit Krebskranken bemerkt, dass “alte Verletzungen, die unvergeben waren, massive Auswirkungen hatten – ja vielleicht sogar den Krebs ausgelöst hatten.”

Unvergebene Schuld als Krankheitsursache? Kaum ein Mediziner wird heutzutage mehr die Zusammenhänge zwischen Körper und Geist bestreiten, die Diagnose “psychosomatisch” hat keinerlei mystischen oder esoterischen Beiklang. Wer in seinem Geist an Hass- und Rachegefühlen bezüglich erlittenen Unrechts festhält – und genau das geschieht, wenn man nicht vergibt – bekommt dies irgendwann körperlich zu spüren. Der US-Fernsehprediger und Pastor Bayless Conley berichtet in einer Predigt sogar von einem Vorfall, bei dem eine Jahrzehnte lang an Rheuma erkrankte Frau vor den Augen des Pastors geheilt wurde, weil sie durch sein Gebet ihrer Schwester vergeben konnte.

Vergebung – ein universelles Gesetz

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Obwohl heilige Schriften nicht die Hauptquellen der modernen Vergebungsgurus sind, haben sie das Prinzip doch als Erste in Worte gefasst. Die Bibel ist dabei deutlicher als jedes andere Buch. Wenn man sich die Anzahl aller Fundstellen für Vergebung und sinnverwandte Begriffe ansieht (weit über 200), kommt man nicht umhin, Vergebung als eine der zentralen biblischen Lehren zu betrachten. Dabei ist Vergebung, anders als bei den zeitgenössischen Therapeuten, keine rein zwischenmenschliche Angelegenheit. Die Sache spannt sich wie ein Dreieck zwischen Gott, mir selbst und meinem Mitmenschen auf. Am klarsten tritt das im oben zitierten Vaterunser zutage.

Vergebung bekommt damit eine weitere Dimension: Ich kann meinem Nächsten vergeben, weil Gott mir vergeben hat. Das macht es leichter. Jesus spielt darauf an, als er in einem Gleichnis von einem Knecht spricht, dem sein König die astronomische Schuld von umgerechnet 100 Millionen Franken erlässt. Ganz entgegen der Erwartung macht dies den Knecht aber nicht vergebungsbereiter, als er einen Mitknecht trifft, der ihm umgerechnet 100 Franken schuldet. Diesen lässt er mangels Zahlungsfähigkeit ins Gefängnis werfen. Wie die Zuhörer Jesu sind auch wir geschockt ob solcher Hartherzigkeit und Blindheit. Unser Empfinden sagt uns nämlich: Wer eine hohe Schuld erlassen bekommen hat, sollte auch anderen leichter vergeben können.



Dennoch macht die Bibel keinen Hehl daraus, dass Vergebung einem auch gut tut. Dem Volk Israel verhiess Gott, dass, wenn sie ihn um Vergebung bitten würden, “…dann werde ich vom Himmel her hören und ihre Sünden vergeben und ihr Land heilen.” (2. Chronik 7,14) Das bezieht sich nun freilich auf denjenigen, der die Vergebung empfängt. An anderer Stelle sagt David in Bezug auf sich als Individuum “Glücklich der, dem   vergeben, dem Sünde zugedeckt ist!” (Psalm 32,1). Dass auch der Vergebende profitiert, wird etwa beim dramatischen Tod des Stephans deutlich, der “mit dem Angesicht eines Engels” Gott um Vergebung für seine Peiniger bat (Apostelgeschichte 7).

Vergebung empfangen: so wichtig wie zu vergeben

Die biblischen Fundstellen lenken unsere Aufmerksamkeit auf etwas, das bei den modernen Protagonisten der Vergebungslehre vielleicht etwas unterrepräsentiert ist: Vergebung empfangen ist genauso wichtig wie zu vergeben. Denn wer vergibt, begibt sich bewusst aus der Opferrolle heraus und in die Rolle eines Souveräns hinein. Das kann leicht für Hybris sorgen, wenn man sich seiner Bedürftigkeit gegenüber einem höheren Vergebungs-Souverän nicht bewusst ist. Vergebung anzunehmen bedeutet nämlich, die eigene Fehlerhaftigkeit und Abhängigkeit einzugestehen.

Wir wünschen Ihnen jedenfalls ein frohes Weihnachtsfest, und, falls nötig, die Bereitschaft zu vergeben oder Vergebung anzunehmen!

 

Titelbild: Vergeben heisst loslassen. (© Suzanne Tucker – shutterstock.com)

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