Ägypten bekommt neue Hauptstadt
von Ulrich Beck
Ägypten soll eine neue Hauptstadt bekommen. So lauten zumindest Pläne der jetzigen Regierung. Obwohl das Projekt angesichts vielfältiger wirtschaftlicher und infrastruktureller Probleme geradezu wahnwitzig klingt, könnte es Ägypten langfristig doch einen deutlichen Schub nach vorne geben.
Das Land Ägypten hat nach den tiefgreifenden politischen Veränderungen in den letzten vier Jahren eine schwere Wirtschaftskrise durchlebt. Vor allem die Einnahmen im Segment Tourismus sind stark gesunken, weil das Land vielen Feriengästen als zu gefährlich galt.
Es mehren sich neuerdings aber die Anzeichen, dass der Tiefpunkt durchschritten ist und das Wachstum sich langsam wieder beschleunigt. Experten rechnen mit Zuwachsraten beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von knapp vier Prozent in 2015 und in 2016.
Für Mitte März 2015 hat Präsident al Sisi Delegationen aus aller Welt nach Scharm al Scheikh eingeladen. Dort findet – mit den Worten von al Sisi – die „Wirtschaftskonferenz des Jahrhunderts“ statt. Dabei geht es vor allem darum, potenzielle und potente Investoren anzulocken, um die gebeutelte Ökonomie wieder auf gesunde Füsse zu stellen. Ein Beispiel für die zuletzt negative Entwicklung: Allein die Exporte nach Deutschland brachen in der Vergangenheit um 20 Prozent ein. Ägypten sieht grosse Chancen für Investitionen in Milliardenhöhe im Energiesektor, Stichworte: Solar- und Windenergie, und bei Ausschreibungen für Bauprojekte. Seit al Sisi im Juli 2013 sein Amt antrat, halfen vor allem drei Staaten aus der Region mit Milliardensummen – Kuwait, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Auch vor dem Auftakt der Konferenz sicherten sie jeweils weitere vier Milliarden Dollar für Hilfen und Investitionen zu.
So sollen an der zum wesentlichen Teil sehr dünn besiedelten Mittelmeerküste neue Ziele für den Tourismus geschaffen werden. Ein weiteres gigantisches Projekt ist die Verbreiterung des Suez-Kanals für die internationale Schifffahrt. Parallel dazu ist eine Sonderwirtschaftszone auf der Halbinsel Sinai geplant, die Kapitalgeber mit niedrigen Zinsen, hervorragenden Produktionsbedingungen und einer direkten Kanalanbindung anlocken soll. Das meiste Aufsehen dürfte allerdings ein Plan erregen, den der für Wohnungsbau zuständige Minister Mustafa Madbuli zu Beginn der Wirtschaftskonferenz erläuterte: Ägypten soll eine komplett neu errichtete Hauptstadt erhalten.
Beim ersten Hinhören mag der geneigte Leser, der die Entwicklung in Ägypten in den letzten Jahren verfolgt hat, ungläubig den Kopf schütteln. Haben die keine andere Sorgen angesichts der wirtschaftlichen und politischen Lage? Immerhin liegen die jüngsten Schätzungen über die voraussichtlichen Kosten bei einer Summe von mindestens 80 Milliarden Dollar. Fakt ist andererseits: Die jetzige Hauptstadt platzt aus allen Nähten. Im Grossraum Kairo leben etwa 18 Millionen Menschen. Nach neueren Erkenntnissen wird sich diese Zahl in den nächsten 40 Jahren wohl verdoppeln. Damit gehört die Region zu den grössten Ballungszentren auf dem Globus. In den täglichen Hauptverkehrszeiten steht die Stadt jedes Mal kurz vor einem kompletten Kollaps.
Die neue Planstadt zwischen Kairo und dem Suez-Kanal soll einmal rund fünf Millionen Einwohner auf einer Fläche von 700 Quadratkilometern beherbergen. Wenn die alten Pharaonen davon wüssten, würden sie wahrscheinlich vor Neid erblassen. Gegen solch ein Vorhaben wirken die Pyramiden von Gizeh nahezu wie ein Sandkastenprojekt. Öffentliche und Verwaltungsgebäude wie der Präsidentenpalast, das Parlament, sämtliche Ministerien und Botschaften ausländischer Nationen werden in den kommenden sechs bis sieben Jahren dahin umziehen. Kostenpunkt: rund 45 Milliarden Dollar. Insgesamt wird die Bauphase auf zwölf Jahre angesetzt. Die Entwicklung der Stadt soll hauptsächlich in die Hände von Unternehmen der Vereinigten Arabischen Emirate (UAE) gelegt werden.
Minister Madbuli hat sich bereits ebenfalls zum architektonischen Erscheinungsbild der Retortenstadt geäussert: Man wolle sich an Kairos Aussehen vom Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts orientieren. Die neue Kapitale soll nicht nur eine höhere Lebensqualität bieten als das alte Kairo. Geplant sind u.a. ein internationaler Airport sowie ein riesiger Freizeitpark von der vierfachen Grösse des Disneylands in Kalifornien. Auch die Verkehrswege sollen von vornherein grosszügiger angelegt werden. Bleibt die Frage, was mit Kairo geschieht. Sollte die Prognose zutreffen, dass sich die Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten verdoppelt, müssten auch hier gewaltige Summen für die Erneuerung und den Ausbau der Infrastruktur – Nahverkehr, Kanalisation, Wasseraufbereitung, Verwaltung etc. – bereitgestellt werden.
Ägypten darf sich aber nicht nur auf ausländische Investoren und deren Geld konzentrieren, sondern muss auch selbst Hand anlegen. Das wichtigste Problem ist derzeit die ausreichende Energieversorgung der Unternehmen und der privaten Haushalte. Die Ägypter sind es mittlerweile gewohnt, Kerzen und Taschenlampen griffbereit zu halten, denn ein- bis zweimal die Woche fällt mindestens der Strom aus. Der Erfolg der Regierung wird – kein Witz – auch daran gemessen, wie häufig und wie lange die Menschen in Dunkelheit verharren müssen.
Viel gravierender ist das Problem jedoch für die Industrie. Oft genug müssen ganze Fabriken die Produktion stoppen und ihre Anlagen abstellen, weil sie nicht genügend mit Energie versorgt werden. Dieser Umstand trägt nicht gerade dazu bei, eine erfolgreiche Wiederbelebung der heimischen Wirtschaft anzukurbeln. Laut übereinstimmenden Meldungen fehlen derzeit Kapazitäten von etwa drei bis vier Gigawatt. Bei einem Bevölkerungswachstum von 2,6 Prozent jährlich ist es klar, dass der Bedarf kontinuierlich steigen wird. Das Thema Energie steht deshalb auf der Agenda der Regierung ganz weit oben. Geplant ist der Bau von mehreren konventionellen sowie einem Kernkraftwerk mit der Hilfe Russlands. Darüber hinaus setzt das Land aber auch stark auf erneuerbare Energien aus Wind- und Solarkraft.
Der Plan, eine neue Hauptstadt aus dem Boden zu stampfen, klingt angesichts der Wirtschaftslage Ägyptens recht wagemutig. Andererseits kann das Projekt auch Anreize für internationale Investoren schaffen, die heute noch nicht genau abzusehen sind. Ob das Land am Nil sein Vorhaben erfolgreich umsetzen kann, bleibt abzuwarten.
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