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Der lange Weg zurück zur Natur – 100 Jahre Schweizerischer Nationalpark

20.04.2015 |  Von  |  Beitrag

Der Schweizerische Nationalpark im Kanton Graubünden wurde im Jahr 1914 gegründet und ist damit der älteste Nationalpark der gesamten Alpen. Seit 1979 ist er als UNESCO-Biosphärenreservat eingetragen und mit über 170 km² das grösste Naturschutzgebiet der Schweiz.

Und das am besten wissenschaftlich erforschte, denn seit Gründung ist der Schweizerische Nationalpark Gegenstand dauernder wissenschaftlicher Forschungen laut eigens erlassenem Nationalparkgesetz.

Seit 100 Jahren also werden hier regelmässig Daten erhoben und ausgewertet, werden Tier- und Pflanzenarten auf Häufigkeit und Verbreitung genauestens untersucht und kartographiert, ebenso wie die Niederschlagsmengen, die Anzahl der Besucher oder der Lärmpegel von Motorrädern, die die Ofenpassstrasse entlangfahren. Insgesamt 65 Dauerprojekte sind eingerichtet und liefern Daten, die von Wissenschaftlern weltweit ausgewertet und analysiert werden.

Ein Jahrhundert ohne menschliche Beeinflussung

Botanische Dauerbeobachtungsflächen stellen die ältesten Studienobjekte des Parks dar, hier ermitteln die Forscher seit 100 Jahren regelmässig im Abstand von 5-10 Jahren, wie sich die Artenvielfalt ohne menschliche Einflussnahme verändert. Dennoch unterscheidet sich der Schweizerische Nationalpark von Nationalparks in Afrika oder den USA wesentlich, denn bevor dieses Areal      der Natur und den dort angesiedelten Tier- und Pflanzenarten überlassen wurde, wurde die Region intensiv land- und fortwirtschaftlich genutzt. So zeigen sich auch ein Jahrhundert nach dem Rückzug des Menschen deutliche Spuren, die nach Einschätzung der Forscher teilweise auch noch für viele Jahrhunderte sichtbar bleiben werden.

Rotwild statt Milchkuh

So erwarteten Naturforscher, dass der Wald sich altes Territorium zurückerobern würde und sich auf den ehemaligen Wiesen und Weideflächen am Waldrand schnell wieder Bäumen ansiedeln. Doch wo früher Kühe oder Schafe grasten, haben sich stattdessen Rotwild und andere Grasfresser angesiedelt, die frische Baumsämlinge ebenso gerne abäsen wie die dort kultivierten Gräser und Kräuter.

Gerade auf den besonders intensiv genutzten Flächen, auf die sich einst das Vieh zum Wiederkäuen zurückgezogen hat, findet das Wild eine reiche Auswahl an Pflanzen. Hintergrund ist, dass diese Flächen durch die Exkremente besonders viele Nährstoffe enthalten und damit ideale Bedingungen für Pflanzen aller Art bieten. Und damit eben auch für das Rotwild, das etwa 85 Prozent des nachwachsenden Pflanzenmaterials verzehrt und damit langsam wachsenden Pflanzen keine Chance lässt, sich dort anzusiedeln. Das berichtet die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landwirtschaft WSL, unter deren Betreuung die botanischen Dauerbeobachtungsflächen stehen.

Nichts bleibt wie es war

Dennoch verändert sich die botanische Vielfalt dramatisch, wie die Datenauswertung der letzten 100 Jahre zeigt: hochwüchsige Pflanzen sind nahezu verschwunden und sind durch solche Arten ersetzt worden, die der intensiven Beweidung besser widerstehen können. So wachsen dort heute mehr stachelige oder giftige Arten oder solche, die kleinwüchsig sind und durch einen schnellen Generationenwechsel von oft nur wenigen Wochen bessere Chancen haben, sich gegen die Hirsche durchzusetzen.

Auf den ersten Blick wirken die tief abgefressenen Hirschweiden monoton, fast eintönig. Doch die Analyse der Forscher zeigt deutlich, dass sich die Anzahl unterschiedlicher Pflanzenarten nicht nur erholen, sondern im Verlauf der letzten 100 Jahre sogar verdoppeln konnte. Und das, obwohl nicht nur das Wild Appetit auf frisches Grün verspürt, sondern auch unzählige andere Pflanzenfresser wie Mäuse, Murmeltiere und Insekten sich an der Vegetation gütlich halten. So finden sich – wissenschaftlich fundiert – auf der Alp Stabelchod auf einem Quadratmeter Fläche fünf Heuschrecken und knabbern frische Schösslinge und andere Triebe an.


Der Schweizerische Nationalpark ist mit über 170 km² das grösste Naturschutzgebiet der Schweiz. (Bild: © Jordan Tan - shutterstock.com)

Der Schweizerische Nationalpark ist mit über 170 km² das grösste Naturschutzgebiet der Schweiz. (Bild: © Jordan Tan – shutterstock.com)


Doch Wild und Insekten tragen auch dazu bei, dass sich Pflanzensamen räumlich verteilen und Arten sich ausbreiten, denn im Kot der Hirsche finden sich immer wieder keimfähige Samen, die von den Tieren auch über weite Distanzen transportiert werden. Die Forscher haben in einer Hochrechnung ermittelt, dass alleine auf Stabelchod das Rotwild im Jahr 1,8 Millionen keimfähiger Samen verteilt. Und die Kerbameise lagert in ihren Nestern ein Vielfaches davon an unterschiedlichen Sämereien, die ebenfalls keimfähig sind und austreiben.

Auch für Ornithologen ist der Schweizerische Nationalpark ein attraktives Forschungsobjekt. Allerdings wird die Vogelpopulation und Artenvielfalt in der Region erst seit rund 20 Jahren wissenschaftlich untersucht, ein zu kurzer Zeitraum, um daraus verlässliche Informationen über deren Entwicklung abzuleiten. Denn in der rauen Umgebung der Berge schwankt die Population stärker als in gemässigteren Regionen, so dass die ermittelten Daten nur schwerlich ein vollständiges Bild ergeben.

Der Wald tut sich schwer

Nach Einschätzung von Experten liegt es nicht nur am Wild, dass sich der Wald nur zögerlich erholt und ausweitet. Denn nicht nur auf den tiefer liegenden Weiden, auf denen sich das Rotwild bevorzugt aufhält, harzt es in Sachen Wiederbewaldung: Forscher haben Experimente mit Dauerzäunen an der Waldgrenze durchgeführt, die das Äsen der Hirsche verhindern. Auch hier schleppt sich eine Wiederbewaldung zäh und langsam voran. Als Grund vermuten die vermuten die Forscher, dass die hohe Sonneneinstrahlung die Jungbäume austrocknet und so verhindert, dass sich alte Fortflächen neu entwickeln.

In Gebieten, die in früheren Zeiten durch Kahlschlag abgeholzt wurden, ist die Bergföhre besonders erfolgreich, eine Pionierart, die sich seit 150 Jahren im Nationalpark ansiedelt und mittlerweile ihr biologisches Höchstalter erreicht hat. Das bedingt einen natürlichen Übergang zur nächsten Baumgeneration unter natürlichen Bedingungen, das Totholz bietet einen idealen Lebensraum für Waldbewohner wie Insekten und Pilze, die wiederum die Basis darstellen für andere Baumarten. So erwartet der WSL in den kommenden Jahrhunderten, dass sich dort Lärche und Arve ausbreiten werden, sofern nicht Waldbrände die erneute Ausbreitung der Bergföhre begünstigen würden. In den Bestandswäldern des Parks dominieren hingegen langlebige Baumarten wie Arve, Lärche oder Fichte, auch wenn deren Anzahl zurückgegangen ist. Dafür ist natürlich auch der Rothirsch mitverantwortlich, allerdings haben sich die früher geäusserten Befürchtungen, dass dieser den Fichtenwald, etwa im Val Trupchun, komplett zerstören könnte, als gegenstandslos erwiesen. Die Aufzeichnungen aus mehreren Jahrzehnten zeigen deutlich, dass sich die Schäden durch Wildverbiss im angehenden Naturwald in natürlichen Grenzen bewegen und keine ernsthafte Gefahr für den Fortbestand darstellen.



Fazit: Der Wandel vom Nutz- zum Urwald hat allenfalls begonnen und kann nach Einschätzung von Experten noch unzählige Generationen andauern. Alleine durch die Höhe des Parks wird die natürliche Entwicklung verzögert. Daher wird es vermutlich noch viele Jahrhunderte dauern, bis die Spuren menschlicher Nutzung aus der früheren Kulturlandschaft verschwunden sind.

 

Oberstes Bild: © Tupungato – shutterstock.com

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