Paläogenetische Analysen zeigen: Der Kennewick-Mann ist ein Urahn der Native Americans

Die nahezu zwei Jahrzehnte andauernde Kontroverse um die im Jahr 1996 im US-Bundesstaat Washington gefunden Knochen hat ein unerwartetes Ende gefunden. Eine DNA-Analyse des sogenannten Kennewick-Mannes offenbart, dass es sich bei dem erhofften Fremden doch um einen Einheimischen handelt. Entsprechend stammt das Skelett nicht – wie lange angenommen – von einem noch unbekannten Akteur der lediglich lückenhaft erforschten Besiedlungsgeschichte Nordamerikas, sondern einem Nachfahren der Native Americans.

Zu diesen Ergebnissen ist ein Team von Wissenschaftlern rund um den Geogenetiker Eske Willerslev, der an der Universität Kopenhagen in Dänemark tätig ist, gekommen. In einem Artikel, der im Fachmagazin „Nature“ erschienen ist, wird darauf hingewiesen, dass die Analysen der Forscher eindeutig seien.

Demnach ist der Kennewick-Mann mit keiner anderen existierenden Bevölkerungsgruppe so nah verwandt wie mit den heute in der Region lebenden Native Americans. Zwar sei es den Wissenschaftlern bis dato nicht gelungen, ihn einer speziellen Gruppe zuzuordnen, allerdings bestehe ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu den Colville – einem Stamm, der von Anfang an Anspruch auf die fast 9ʼ000 Jahre alten Gebeine erhoben hatte.


Colville-Stamm-Reservat im Bundesstaat Washington. (Bild: Gary Wilson, Wikimedia, public domain)

Die Geschichte des Kennewick-Mannes

Am 28. Juli des Jahres 1996 fanden die beiden Studenten Dave Deavy und Will Thomas einen menschlichen Schädel am Ufer des Columbia River in der Nähe von Kennewick im Bundesstaat Washington. Vier Wochen später war nicht nur das zum Schädel gehörende Skelett sichergestellt, Gerichtsmedizinern war es auch gelungen, das Sterbejahr des Toten zu ermitteln: circa 7500 v. Chr. In den folgenden Jahren wurde das Bild des Verstorbenen immer komplexer. So war er zwischen 45 und 50 Jahre alt und etwa 1,75 Meter gross. Der Mann hatte eine Kopfverletzung, eine Fraktur am linken Ellenbogen und zahlreiche Rippenbrüche. Zudem befand sich in seiner Hüfte eine Speerspitze, durch welche er allerdings nicht getötet wurde. Diverse Fragen blieben jedoch unbeantwortet, so zum Beispiel, ob der Kennewick-Mann jemals bestattet worden war.



Das NAGPRA-Gesetz: Native Americans fordern die Herausgabe ihres Vorfahren

Bereits kurze Zeit, nachdem das Alter der Gebeine feststand, forderten mehrere Stämme der Native Americans unter Berufung auf den Native American Graves Protection and Repatriation Act (kurz: NAGPRA) die Herausgabe ihres Vorfahren. Dieses Gesetz aus dem Jahr 1990 regelt den Umgang mit menschlichen Überresten von Toten, die vor 1492, also der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus, gestorben sind. In ihm wird verfügt, dass sämtliche Knochen sowie alle Grabbeigaben aus indianischen Bestattungen an den in der jeweiligen Region ansässigen Stamm zurückzugeben sind, denn nur so können die Native Americans ihre Riten vollziehen und ihre Ahnen zur endgültigen Ruhe betten. Im Fall des Kennewick-Mannes wären dies die Colville gewesen. Allerdings sieht das NAGPRA-Gesetz auch vor, dass der jeweilige Stamm einen Beweis für die Verwandtschaft mit dem Verstorbenen zu erbringen hat, was zur damaligen Zeit nahezu unmöglich war.

Das folgenschwere Gutachten des James Chatters

Anfangs war unklar, ob der Kennewick-Mann aufgrund seiner Physiognomie tatsächlich als Urahn der Native Americans gelten konnte oder nicht. Entsprechend folgenschwer war das von James Chatters, einem unabhängigen Archäologen, erstellte Gutachten, das besagte, der Kennewick-Mann sei aller Wahrscheinlichkeit nach kein Verwandter der Native Americans. So weise die Form der Knochen enorme Unterschiede zu derjenigen der heute lebenden Native Americans auf. Vielmehr sei das Kennewick-Skelett „kaukasoid“ und es könne davon ausgegangen werden, dass die Urahnen des Toten aus Europa stammen. Aufgrund dieser Einordnung avancierte der Kennewick-Mann für zahlreiche Menschen, die gegen die Herausgabe der Gebeine an die Native Americans waren, zu einem Europäer. In Folge erhoben nicht nur die Native Americans, sondern auch andere Gruppen wie zum Beispiel die dem Germanischen Neuheidentum anhängende Glaubensgemeinschaft Asatru Folk Assembly, die neben Odin und Thor noch weitere nordische Gottheiten verehrt, Anspruch auf die jahrtausendealten Knochen und Fragmente.


Der Kennewick-Mann ist ein Urahn der Native Americans. (Bild: Whitney Gallery of Western Art, Wikimedia, public domain)

Schlagartig stand eine gewichtige These im Raum

Zwar schränkte Chatters sofort ein, derartige Schlussfolgerungen habe er nicht forciert, allerdings stand schnell eine gewichtige These im Raum: Möglicherweise waren die Europäer nicht erst auf den Schiffen von Kolumbus, sondern weitaus früher und auf anderen Wegen nach Nordamerika gelangt – ebenso wie die Vorfahren der Native Americans vor mehr als 11´000 Jahren aus Ostasien über die Behringstrasse auf den nordamerikanischen Kontinent vorgedrungen waren. Die neue Hypothese war eine Sensation – und zugleich ein Schlag ins Gesicht der Ureinwohner. Unter den Vertretern der Stämme machte sich Entsetzen breit. Auch brachten sie Beschwerden darüber vor, dass eine Kohlenstoffdatierung des Skeletts Beschädigungen an den Knochen ihres vermeintlichen Urahnen, dem sie den Namen „The Ancient One“ gaben, hervorgerufen habe. Die Native Americans bestanden auf Anwendung des NAGPRA-Gesetzes, denn sie wollten den Kennewick-Mann begraben.

Chatters hatte jedoch anderes im Sinn. Er behauptete nicht nur, das Gesetz gebe den Native Americans zu viel Kontrolle und wäre der anthropologischen Forschung abträglich, sondern er reichte Klage ein. Dabei argumentierten Chatters und sein Team folgendermassen: Formulierungsvorschlag: Chatters und sein Team argumentierten, dass der Kennewick-Mann, wenn er tatsächlich von den Europäern abstamme, ihr Urahn und kein Vorfahre der Native Americans sei. Die Verwendung des ursprünglich aus der Rassentheorie stammenden Terminus „kaukasoid“ verschärfte die Debatte – und zwar nicht nur mit den Stämmen, sondern auch unter den Forschern selbst.Während einige Archäologen und Anthropologen eine Zusammenarbeit mit den Native Americans anmahnten, wollten andere ihnen die Gebeine per gerichtlichen Beschluss vorenthalten.

1,4 Prozent der DNA des „Ancient One“ brachten Klarheit

Schliesslich beauftragte das Gericht im Jahr 1999 das „Burke Museum“ in Seattle mit der Aufbewahrung der 350 Knochen und Fragmente des Skeletts. Zudem wurden weitere Analysen zugelassen, damit die zur Debatte stehende Verwandtschaft des Verstorbenen mit polynesischen Völkern, den Ainus aus Japan und natürlich Europäern überprüft werden konnte.

In einem weiteren Schritt blockierte der zuständige Richter im Jahr 2004 endgültig eine weitere Einflussnahme der Native Americans auf den Verbleib der Gebeine, so dass auch nach Abschluss der Analysen eine Bestattung des „Ancient One“ in weite Ferne rückte. Zur Urteilsbegründung zog er jenen Paragrafen des NAGPRA-Gesetzes heran, der besagt, dass eine kulturelle oder signifikante genetische Verbindung des Verstorbenen zum jeweiligen Stamm der Native Americans bestehen müsse, was nicht belegbar und somit nicht der Fall sei.

Dies hat sich jedoch nun geändert. Zu Ende des 20. Jahrhunderts war es noch nicht möglich, jahrtausendealte DNA so exakt und umfassend zu analysieren, wie es nun von der Forschergruppe um Elke Willerslev getan wurde. So ist es mittlerweile möglich, aus kürzeren DNA-Sequenzen genaue Informationen zu ziehen. Entsprechend reichten 200 Milligramm der Handknochen des Kennewick-Mannes aus, um 1,4 Prozent seiner DNA zu isolieren.

Zwar war selbst diese geringe Menge schwer zerstört, so zumindest Willerslev, allerdings sei das Ergebnis dennoch eindeutig: Der Verstorbene ist mit den Native Americans der Colville enger verwandt als mit irgendeinem anderen Volk. Um zu einem zweifelsfreien Resultat zu gelangen, verglichen die Wissenschaftler das entschlüsselte Erbgut nicht nur mit Proben der Colville, sondern auch der Polynesier, der Ainus und der Europäer.


Die DNA des Kennewick-Mannes wurde von den Forschern exakt und umfassend analysiert. (Bild: Sergey Nivens – shutterstock.com)

Dänische Stiftungen finanzierten die Analysen

Willerslev erklärt des Weiteren, dass nicht mehr herausgefunden werden könne, ob der Kennewick-Mann ein direkter Vorfahr der Colville sei, allerdings würden die Analysen die These, es handele sich um einen vor Jahrtausenden aus Europa nach Nordamerika übergesiedelten Menschen handeln, keinesfalls stützen.

Aufgrund der Tatsache, dass lediglich die Colville DNA-Proben zur Verfügung gestellt hatten, war es den Forschen nicht möglich, zu evaluieren, ob und in welchem Mass eine genetische Nähe zu anderen Native Americans, die im Nordwestern der USA leben, besteht. Zudem, so die Wissenschaftler, müsse angenommen werden, dass sich durch Eheschliessungen zwischen den Stämmen das Erbgut ohnehin vermischt habe. Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine genetische Verwandtschaft zu allen dort ansässigen Native Americans vorhanden ist.



Die Colville haben die Analysen des Forscherteams um Willerslev gespannt verfolgt und standen in regelmässigem Kontakt mit ihm – besondere Begeisterung brachte natürlich das Ergebnis hervor. Ob die Native Americans „The Ancient One“ nun endlich bestatten dürfen, ist jedoch weiterhin unklar. Fakt ist allerdings, dass die Forschungsarbeiten nicht von US-amerikanischen Behörden, sondern unabhängigen dänischen Stiftungen finanziert wurden.

 

Oberstes Bild: Samuel George Morton, Wikimedia, public domain

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