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Neuer Lehrstuhl an der Uni Zürich zur Erforschung der Muttermilch etabliert

10.07.2015 |  Von  |  News

Die Universität Zürich hat sich entschlossen weltweit eine Vorreiterstellung in Sachen Muttermilchforschung einzunehmen, denn sie etabliert im Fachbereich Medizin den weltweit ersten Lehrstuhl zur Erforschung der Muttermilch und schliesst damit ein Desiderat. Finanziert wird das 20 Millionen Franken teure Vorhaben von der Familie Larsson-Rosenquist Stiftung, deren Fokus auf der Muttermilch und dem Stillen liegt.

Ziel dieser Stiftungsprofessur ist es, neue Erkenntnisse über die funktionellen Eigenschaften der Muttermilch sowie über deren Inhalte zu erlangen. Die Universität Zürich betont, der Einfluss der Muttermilch sei gross – sei es als Einflussfaktor auf das Immunsystem oder für die Prävention von Allergien. Dabei beeinflusse die Muttermilch nicht nur den Gesundheitszustand von Früh- oder Neugeborenen, sondern auch von Kindern und Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter hinein.


Universität Zürich, Standort Zentrum. (Bild: e X p o s e – shutterstock.com)

Universität Zürich, Standort Zentrum. (Bild: e X p o s e – shutterstock.com)


Hauptziel ist es, Wissenslücken zu schliessen

Voraussichtlich wird der künftige Lehrstuhl ab 2016 eingerichtet und auf unbestimmte Zeit, sicher jedoch für die nächsten 25 Jahre, betrieben. Auch erste Personalentscheidungen sind bereits gefallen, denn die Schirmherrschaft werden Dirk Bassler, der ärztliche Direktor der Klink für Neonatologie des Universitätsspitals Zürich und Felix Sennhauser, der ärztliche Direktor des Kinderspitals der Universität Zürich, innehaben.

Zeitgleich finanziert die Stiftung einen ergänzenden zweiten Lehrstuhl für Human Lactology in Perth an der University of Australia, dessen Hauptaugenmerk auf dem Bereich Biochemie liegt. Auf diese Weise möchte die Stiftung sicherstellen, dass die Erforschung der Muttermilch multidisziplinär erfolgt.

Forschungsstand: Sämtliche Studien zum Nutzen der Muttermilch und des Stillens von Experten analysiert

Grundsätzlich gehen Wissenschaftler davon aus, dass Muttermilch die Gesundheit von Neugeborenen fördert. Unklar ist jedoch, wie stark – obwohl niemand daran zweifelt, dass Muttermilch in den ersten Lebensmonaten eines Babys die beste Nahrung ist. Die Frage, wie gross der Nutzen des Stillens für die Gesundheit des Kindes tatsächlich ist, da mit der jeweiligen Antwort weitreichende Konsequenzen verbunden sind.

Die einen gehen fest davon aus, die positiven Effekte des Stillen seien besonders gross und entscheiden sich deshalb trotz möglicher Schmerzen und hoher psychischer Belastung für diese vermeintlich optimale Form der Ernährung des Neugeborenen. Die anderen meinen, de facto sei wissenschaftlich kaum belegt, welche positiven Auswirkungen des Stillen realiter haben und glauben deshalb an einen vernachlässigbaren Nutzen.


Muttermilch ist die beste Nahrung in den ersten Lebensmonaten eines Babys. (Bild: Igor Borodin – shutterstock.com)

Muttermilch ist die beste Nahrung in den ersten Lebensmonaten eines Babys. (Bild: Igor Borodin – shutterstock.com)


Die Datenlage zur Muttermilch ist keineswegs eindeutig

Bis dato ist die wissenschaftliche Datenlage zur Muttermilch sowie zum Stillen und dessen gesundheitlichen Nutzen für Neugeborene keineswegs eindeutig. Dies geht zumindest aus einer von der europäischen Gesellschaft für Magen-Darm-Erkrankungen und Ernährung bei Kindern (kurz: ESPGHAN) erarbeiteten Übersichtsdarstellung hervor, Übersichtsdarstellung hervor, die 2009 im Journal of Pediatric Gastroenterology and Nutrition erschienen ist.

Noch immer gelten die in dieser Arbeit zusammengefassten Empfehlungen zahlreichen nationalen Gesellschaften für Pädiatrie in ganz Europa und auch in der Schweiz als Guideline. Der Grund für die verwirrende Datenlage ist die beschränkte Aussagekraft sehr vieler Studien. Zudem geben die Forscher zu bedenken, dass die Entscheidung einer Mutter für das Stillen von vielen unterschiedlichen gesundheitsbezogenen und sozialen Faktoren abhänge, so dass es kaum möglich sei, eindeutige Schlüsse zu ziehen.

Stillende Frauen aus industrialisierten Ländern verfügen der Tendenz nach über eine bessere Ausbildung, einen höheren sozio-ökonomischen Status und führen insgesamt ein gesünderes Leben. Zu einer nicht zu unterschätzenden Verfälschung der Forschungsergebnisse trägt aus Sicht der Wissenschaftler auch bei, dass viele Frauen sich im Rahmen der Studien an die tatsächliche Stillzeit ihres Babys erst erinnern müssten.



Die Effekte des Stillens auf Infektionen, Allergien, Gehirnentwicklung sowie Herz-Kreislauf-System, Übergewicht und Altersdiabetes

Trotz all dieser Faktoren ist es den Wissenschaftlern der ESPGHAN möglich, auch eindeutigere Aussagen zu treffen. Demnach sterben vor allem in den Ländern der Dritten Welt – so zumindest die Schätzungen – knapp 1,5 Millionen Kleinkinder, da das Stillen zumindest teilweise die Auswirkungen schlechter hygienischer Verhältnisse kompensiert. Hingegen, so die Forscher, gäbe es in entwickelten Ländern keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Kindersterblichkeit durch das Stillen beeinflusst würde. Anders verhalte sich dies jedoch in Bezug auf die Erkrankungshäufigkeit der Kinder.

  • Infektionen:

Fest steht, in Bezug auf Infektionen hat das Stillen den grössten positiven Effekt. Folgt man den Auswertungen der Studien durch ESPGHAN, schützt das Stillen vor Mittelohrentzündungen und Magen-Darm-Infektionen. Bei anderen Infektionen – beispielsweise der Atemwege – erbrachte die Studienauswertung keine eindeutige Datenlage.

  • Allergien:

Bis dato wird kontrovers diskutiert, ob Stillen eine vor Allergien schützende Wirkung hat. Zu dieser unsicheren Datenlage trägt vor allem die Tatsache bei, dass Mütter, die sich bewusst sind, dass ihr Baby unter einem erhöhten Allergierisiko leidet, deutlich häufiger und auch länger stillen, wodurch es zu einer Verfälschung der Studien kommt. Entsprechend beschränke sich der Nutzen der Muttermilch laut ESPGHAN vorrangig auf diejenigen Kinder, deren Familienangehörige (Geschwister oder Eltern) bereits eine Allergie haben.

  • Entwicklung des Gehirns:

De facto deuten viele Studien darauf hin, dass Muttermilch einen positiven Effekt auf die Entwicklung des Gehirns und den Intelligenzquotienten hat. Doch folgt man der ESPGHAN, gibt es auch in diesen Studien verfälschende Faktoren, weshalb sie zum Resultat kommt, Muttermilch hätte letztlich für die Gehirnentwicklung des einzelnen Individuums lediglich geringe Auswirkungen.

  • Herz-Kreislauf-System

Bis dato zeigte keine der von der ESPGHAN analysierten Studien konkrete Auswirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem, und zwar weder auf die Erkrankungshäufigkeit noch auf die durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bedingte Sterblichkeit.

  • Übergewicht und Altersdiabetes

In Bezug auf Altersdiabetes und Übergewicht lassen sich positive Effekte durch das Stillen erkennen. Allerdings wird zukünftig eine tiefergehende Erforschung dieser Auswirkungen notwendig sein. Zudem gilt es, die Auswirkungen von Muttermilch und die schützende Funktion des Stillens auf zahlreiche andere Krankheiten wie zum Beispiel Diabetes Typ 1 zu untersuchen. Gleiches gilt für die Entstehung von Zöliakie (Glutenunverträglichkeit). Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Muttermilch bzw. das Stillen einen schützenden Effekt in Bezug auf entzündliche Darmerkrankungen hat und Kinder auch einen geringen Stillschutz vor Leukämie haben.


Muttermilch fördert die Gesundheit von Neugeborenen. (Bild: Alena Ozerova – shutterstock.com)

Muttermilch fördert die Gesundheit von Neugeborenen. (Bild: Alena Ozerova – shutterstock.com)


Bis dato auffällig viele Unsicherheiten trotz zahlreicher Studien

Wie die Analyse der zahlreichen Studien zeigte, bestehen nicht nur viele Unsicherheiten auf die Auswirkungen von Muttermilch, vielmehr steckt die gesamte Muttermilchforschung noch in den Kinderschuhen. Auch Prof. Christian Braegger, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (kurz: GSP) und Facharzt für Kinder- u. Jugendmedizin am Kinderspital Zürich, weist darauf hin, dass eindeutige Resultate meist schwierig zu produzieren seien. Aber, so Braegger, eine unklare Datenlage bedeute nicht zwangsläufig, dass keine positiven Effekte vorhanden sind. Dass das Stillen respektive die Muttermilch negativen Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern hat, ist bis dato nicht bekannt. So sind auch Umweltgifte, die sich in der Muttermilch befinden können, nicht bedeutsam. Aufgrund des bisherigen Forschungsstandes und der aktuellen Datenlage macht die Einrichtung eines eigens für die Erforschung der Muttermilch eingerichteten Lehrstuhls also durchaus Sinn, denn nur auf diesem Weg wird es gelingen, bestehende Wissenslücken zu schliessen.


Das Stillen in der Öffentlichkeit ist zumindest im europäischen und amerikanischen Kulturraum weithin akzeptiert. (Quelle: © Statista)

Das Stillen in der Öffentlichkeit ist zumindest im europäischen und amerikanischen Kulturraum weithin akzeptiert. (Quelle: © Statista)


 

Oberstes Bild: © Dmytro Vietrov – shutterstock.com