Bern BE: Tabuthema häusliche Gewalt – wenn Pflege zur Belastung wird

Häusliche Gewalt betrifft viele Menschen in der Schweiz und bleibt oft im Verborgenen.

Jährlich werden schweizweit rund 20’000 Fälle von Gewalt im häuslichen Kontext polizeilich erfasst.

Die Dunkelziffer ist dabei riesig: Schätzungsweise wenden sich nur 10 bis 20 Prozent der Betroffenen an die Polizei. Ein besonders sensibler Bereich, in dem häusliche Gewalt oft übersehen wird, ist die Betreuungs- und Pflegesituation innerhalb der Familie.

Betreuungs- und Pflegesituationen stellen eine wachsende Herausforderung für die Gesellschaft dar, insbesondere im Kontext einer immer älter werdenden Bevölkerung. Die Zahl der Personen, die auf Betreuung und Pflege angewiesen sind oder ihre Angehörigen betreuen, nimmt kontinuierlich zu. Diese Beziehungen basieren in vielen Fällen auf Liebe, Fürsorge und gegenseitigem Respekt. Doch trotz der positiven Aspekte können solche Situationen auch zu grossen Belastungen der betreuenden und der betreuten Personen führen. Die emotionalen, körperlichen und finanziellen Anforderungen einer Betreuungs- und Pflegesituation sind nicht zu unterschätzen. Verschiedene Faktoren können die involvierten Personen an ihre Grenzen bringen. Emotionale Belastung, körperliche Erschöpfung, Wesensveränderungen aller involvierten Personen oder eine angespannte Vorgeschichte erhöhen das Risiko von Grenzverletzungen und Misshandlungen. Übergriffe in Betreuungs- und Pflegesituationen können viele Formen annehmen und sind nicht immer physisch.

Besonders betroffen sind ältere Personen, die aufgrund von körperlichen oder geistigen Einschränkungen auf die Unterstützung von Angehörigen angewiesen sind. Doch auch betreuende Personen können übergriffigem Verhalten ausgesetzt sein oder es kann zu gegenseitiger Gewalt kommen. Häusliche Gewalt bei Betreuung und Pflege von Angehörigen bleibt oftmals im Verborgenen und wird oft nicht als Gewalt erkannt. Nicht immer ist den gewaltausübenden Personen bewusst, dass ihr Verhalten unangemessen oder übergriffig ist.

Dynamik in der Betreuungs- und Pflegesituation

Da die betreuungsbedürftige Person in vielen Lebensbereichen auf Unterstützung angewiesen ist, entsteht oft ein hohes Mass an Abhängigkeit, was zu einem Machtungleichgewicht führen kann. Häufig ist aber auch die unterstützende Person schlichtweg mit der Situation überfordert. Sie übernimmt eine Verantwortung, die sowohl emotional als auch physisch sehr belastend ist, vor allem bei intensiven und lang anhaltenden Pflegesituationen.

Beispiele von Gewalt von betreuenden Angehörigen gegenüber Unterstützungsbedürftigen

  • Der Ehemann verweigert seiner Frau die Körperpflege und verhindert den Kontakt zu Freundinnen.
  • Die Tochter fügt dem betagten Vater bei der Pflege bewusst Schmerzen zu und droht ihm mit dem Altersheim.

Häusliche Gewalt von betreuenden Angehörigen gegenüber unterstützungsbedürftigen Personen kann viele verschiedene Formen annehmen. Sie reicht von psychischer Gewalt wie Beleidigungen und Drohungen über körperliche Gewalt bis hin zu Vernachlässigung und Misshandlung.

Oft bleibt jedoch die ausgeübte Gewalt subtil und ist deshalb schwer zu erkennen, was es den Betroffenen erschwert, diese anzusprechen oder sich Hilfe zu suchen. Ein häufiger Grund für die Gewalt durch betreuende Angehörige ist die hohe Belastung und Überforderung, die mit der Betreuung und Pflege eines Familienmitglieds einhergeht.

Oftmals stehen betreuende Angehörige vor extremen Anforderungen wie finanzieller Belastung, emotionaler Erschöpfung oder Isolation. Sie haben aufgrund der ständigen Verantwortung kaum Raum für Erholung und persönliche Interessen. Solche Situationen können den Verlust der Geduld begünstigen und zu zunehmender Frustration führen, was aggressive Reaktionen der betreuenden Angehörigen begünstigt.

Beispiele von Gewalt von Unterstützungsbedürftigen gegenüber betreuenden Angehörigen

  • Die betreute Mutter droht, nichts mehr zu essen, wenn der Sohn fremde Personen zur Betreuung und Pflege beizieht.
  • Der betreute Ehemann kratzt und beisst seine Ehefrau beim An- und Ausziehen.

Es gibt Fälle, in die betreuten Personen selbst Gewalt ausüben. Dabei kann die Gewalt psychisch, beispielsweise in Form von Manipulation, oder auch physisch erfolgen. Gründe dafür können Frust über die eigene Betreuungs- und Pflegesituation, über den Verlust der Selbstständigkeit oder auch kognitive Einschränkungen sein. Besonders Menschen mit Demenz können ihre Gefühle und Bedürfnisse oft nicht angemessen ausdrücken, was zu Aggressionen und gewalttätigem Verhalten führen kann.

Prävention und Unterstützung

Es ist entscheidend, dass Grenzverletzungen in Betreuungs- und Pflegesituationen nicht länger ein gesellschaftliches Tabu darstellen. Ein offener Dialog ist notwendig, um sowohl den unterstützungsbedürftigen Personen als auch den betreuenden Angehörigen zu helfen, mit den Herausforderungen dieser Situationen umzugehen. Dabei ist es wichtig, dass die betreuende Person auf sich selbst achtet, ihre eigenen Grenzen erkennt und rechtzeitig Unterstützung sucht, wenn die Belastung zu gross wird. Betreuende Personen sollten sich also regelmässig selbst reflektieren und sich fragen: „Wie geht es mir?“ Und: „Habe ich noch genügend Energie, um weiterhin in dieser Weise zu helfen?“

Sich Pausen zu gönnen und um Hilfe zu bitten, ist ein Zeichen von Verantwortung sich selbst und der unterstützungsbedürftigen Person gegenüber. Nur wenn betreuende Personen auf ihr eigenes Wohlbefinden achten, können sie auch auf die Bedürfnisse der Unterstützungsbedürftigen angemessen eingehen. Das Überdenken der eigenen Situation kann helfen, eine Überlastung zu vermeiden und die Betreuung und Pflege weiterhin mit Engagement und Energie zu leisten.

Ebenso wichtig ist es, dass Unterstützungsbedürftige – sofern ihre kognitiven Fähigkeiten dies zulassen – ihre eigene Situation regelmässig reflektieren und ihre Wünsche sowie Sorgen ansprechen. Dies erfordert viel Mut, besonders wenn man von jemandem abhängig ist. Dennoch wird die Beziehung langfristig gestärkt, wenn ein ehrlicher und transparenter Austausch gepflegt wird. Ein offenes Gespräch mit der betreuenden Person kann helfen, Missverständnisse zu klären und allenfalls notwendige Veränderungen anzustossen, um die Beziehung respektvoll und konstruktiv zu gestalten.

Falls es dennoch zu Grenzverletzungen oder Gewalt kommt, dürfen und sollten sich Betroffene an Gesundheitsfachpersonen, spezialisierte Fachstellen oder die Behörden wenden. In solchen Fällen können diese Institutionen Unterstützung bieten. Sie sind nicht nur in der Lage, akute Hilfe zu leisten, sondern begleiten die Betroffenen auch auf ihrem Weg zu einer respektvollen und würdevollen Betreuung und Pflege. Wer sich von Gewalt betroffen fühlt oder Gewalt beobachtet, sollte bei Notsituationen immer direkt die Polizei unter der Notrufnummer 112 oder 117 rufen. Sowohl betreuende Personen als auch Unterstützungsbedürftige haben das Recht auf eine respektvolle und sichere Pflegeumgebung.

 

Quelle: Kantonspolizei Bern
Bildquelle: Kantonspolizei Bern

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