Berufspendler: Weltweit gleiche Bewegungsmuster
von Alin Cucu
Berufspendler waren im Durchschnitt schon immer eine Stunde pro Tag unterwegs, und das seit Urzeiten.
Diese Hypothese stellte 1994 der italienische Arzt Cesare Marchetti auf. Diese eine Stunde wurde in der Folge als „Marchetti-Konstante“ bekannt.Einen Beweis blieben jedoch sowohl Marchetti als auch andere Forscher in den letzten 20 Jahren schuldig – bis jetzt.
Irgendwie steil ist Marchettis These schon. Da soll ein Steinzeitmensch genauso lange zur Arbeit unterwegs gewesen sein wie ein moderner Europäer im 21. Jahrhundert? Und Menschen im subsaharischen Afrika sollen die gleiche Zeit am Tag pendeln wie Einwohner nordamerikanischer Megacities? Immerhin macht die Theorie von daher Sinn, dass eine Stunde Fahrzeit einen guten Kompromiss darstellt: eine halbe Stunde hin, eine halbe zurück. Für den modernen Städter bedeutet das, Wohnen im Grünen mit guter Anbindung an einen lukrativen Job zu verknüpfen. Ein neolithischer Jäger und Sammler balancierte auf diese Weise einen ordentlichen Aktionsradius für die Nahrungssuche aus gegen genug übrige Zeit, um das Essen zuzubereiten.
Ob Marchettis Idee wirklich wahr ist, konnte nie abschliessend gezeigt werden. Einige Studien sprachen dafür, andere dagegen. Eines hatten sie jedoch alle gemeinsam: sie beruhten auf unterschiedlichen Datensätzen, die man nicht ohne Weiteres vergleichen kann. So wurden verschiedene Umfragen mit verschiedenen Fragen eingesetzt oder verschiedene Arten von Fahrtstrecken gleich behandelt. Die einander widersprechenden Schlussfolgerungen könnten also letztlich daher kommen, dass die Datenerhebungen so unterschiedlich verliefen, und somit gar nicht die zugrunde liegenden Muster erfasst haben.
Um also wirklich valide Aussagen treffen zu können, braucht es eine Art der Datenerhebung, die in allen Teilen der Welt gleich ist. Diese haben Kevin Kung und Kollegen vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) nun geliefert. Ihr Fazit: Die durchschnittliche Pendelzeit beträgt tatsächlich eine Stunde und ist weitgehend unabhängig von der Strecke, dem Land und sogar dem Kontinent, auf dem die Menschen leben.
Der Schlüssel zu ihrer Arbeit ist die weit verbreitete Verfügbarkeit von Mobilfunkdaten in verschiedensten Teilen der Welt. So konnten Kung et al. den gleichen Typ Daten von Leuten in Portugal, der Elfenbeinküste und Boston miteinander vergleichen. Jeder Datensatz beinhaltet den Zeitpunkt sowie den über die Basisstation ermittelten Ort eines Telefongesprächs, das ein Pendler geführt hat. So sammelten die Forscher in der Elfenbeinküste vergangenes Jahr 150 Tage lang Daten über 50’000 Mobilfunkbenutzer. In Portugal waren es sogar 2 Millionen Kunden, deren Anrufdaten zwischen 2006 und 2007 analysiert wurden. Wie viel und wann in Boston gesammelt wurde, ist nicht bekannt.
Mit den Informationen konnten Kung et al. letztlich die Fahrtstrecke zwischen Wohnort und Arbeitsplatz berechnen. Sie nahmen dazu an, dass die Basisstation, an der das Mobiltelefon nachts eingeloggt ist, dem Zuhause entspricht. Durch die zeitliche Distanz zwischen dem letzten Gespräch an der Home-Basisstation und dem ersten Anruf aus der Arbeits-Zelle erhielten sie eine obere Schätzgrenze für die Pendelzeit.
Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Pendelmuster in der Elfenbeinküste, Portugal und Boston auffallend ähneln. Die meisten Menschen brechen zwischen acht und zehn Uhr morgens auf und sind gegen 20.30 Uhr wieder zurück. Und: Je weiter sie reisen müssen, desto früher verlassen sie das Haus. Lediglich in Portugal gibt es etwas grössere Variationen beim Heimpendeln; die Menschen brauchen hier etwas länger nach Hause, was möglicherweise an der Afterwork-Kultur in portugiesischen Städten liegt. Im Kontrast dazu scheinen sich die Berufstätigen in der Elfenbeinküste zu beeilen, nach Hause zu kommen, da Autofahren bei Dunkelheit dort gefährlich und der öffentliche Nahverkehr unzuverlässig ist.
Am erstaunlichsten ist jedoch die Tatsache, dass die Pendelzeit nicht von der zurückzulegenden Strecke abhängt. Im Durchschnitt sind Pendler eine Stunde pro Tag unterwegs – egal, ob sie zu Fuss gehen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder das Auto nehmen. Und das gilt für die USA, Europa und Afrika gleichermassen. „In jedem Land zeigen die Verteilungsmuster, abgesehen von kleinere Differenzen … eine auffällige Ähnlichkeit, die unabhängig von der Pendelstrecke ist“ sagen Kung und Kollegen. „Dies impliziert, dass ein allgemeines distanz-unabhängiges Gesetz existiert, das die Bewegungen der Pendlermassen dirigiert.“
Im Grunde entspricht das genau Marchettis 20 Jahre alter Hypothese. Natürlich kann man nicht mit Sicherheit sagen, ob Steinzeitmenschen den selben Mustern folgten. Unwahrscheinlich ist es nicht – scheinbar ist die eine Stunde am Tag irgendwie in der menschlichen Natur festgeschrieben. Einen ökonomischen Grund dafür haben wir schon genannt. Zum Abschluss nochmal ein psychologischer: Der Weg zur Arbeit und zurück ist nicht zuletzt auch eine Zeit der inneren Vor- und Nachbereitung, sozusagen ein Puffer zwischen Familienleben und Beruf. Dennoch: Wohl dem, der nicht mehr als die eine Stunde täglich dafür opfern muss!
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