250 Jahre elektronische Musik – Teil 1: Elektrische Instrumente des 18. Jahrhunderts
MIDI, Sampling, mp3, Live-Elektronik, virtuelle Synthesizer – die digitale Revolution hat auch vor der Musik nicht haltgemacht. Noch nie war elektronische Musik so leicht zu erzeugen oder mit analogen Instrumenten zu kombinieren wie heute. Dass das erste elektrische Instrument schon mehr als 250 Jahre alt ist, ist weit weniger bekannt.
Ein Chorherr, der mit Elektrizität experimentierte, ein Jesuitenpater und sein elektrisches Klavier: Der erste Teil dieser Serie stellt die Anfänge der elektronischen Musik im 18. Jahrhundert vor – mit zwei ihrer fast in Vergessenheit geratenen Pioniere und deren Erfindungen.
Dies ist ein Bericht über die Geschichte der elektronischen Musik in mehreren Teilen. Hier das Inhaltsverzeichnis:
Teil 1: Elektrische Instrumente des 18. Jahrhunderts
Teil 2: Elektrische Klangerzeugung im 19. Jahrhundert
Teil 3: Die Eroberung neuer Klangwelten im 20. Jahrhundert
Teil 4: MIDI als Schnittstelle zur Computersteuerung elektronischer Klänge
Prokop Diviš – ein Priester mit einer Schwäche für Strom
Prokop Diviš war ein tschechischer Gelehrter mit viel Erfindergeist. Geboren 1698 im ostböhmischen Helvíkovice, studierte er Philosophie, bevor er zum Priester geweiht wurde und sich an der Universität von Salzburg der Theologie als Hauptfach widmete. Sein Geburtsname, Václav Divíšek, wurde latinisiert, wie das bei Geistlichen damals üblich war. Fortan hiess er Procopius oder Prokop, sein Nachname wird „Diwisch“ ausgesprochen.
Nach seinem Studium übernahm er im Ort Přímětice die Klosterpfarrei und blieb dort als Pfarrer für den Rest seines Lebens. Wenn er sich gerade nicht um seine Gemeindeschäfchen und seine Kirche kümmern musste, experimentierte er mit elektrischem Strom, der ihn schon als junger Mann fasziniert hatte. Fast wäre er sogar als Erfinder des Blitzableiters in die Geschichte eingegangen, doch Benjamin Franklin kam ihm knapp zuvor.
Tatsächlich hatten beide, unabhängig voneinander und praktisch gleichzeitig, dieselben Erkenntnisse aus ihren „gewitterelektrischen Experimenten“ gewonnen. Den Blitzableiter, den Diviš im Jahr 1754 auf seinem Pfarrhaus errichtet hatte, rissen ihm vier Jahre erzürnte Bauern vom Dach, weil sie dem Priester und seiner Blitzstange die Schuld für die damals herrschende Dürre gaben.
Doch Diviš fand andere Wege, seine Leidenschaft für Strom zu kanalisieren: Er erforschte den Einfluss von elektrischem Strom auf Pflanzen und glaubte auch an dessen Heilkräfte in der Medizin. Da er als Geistlicher zudem der Musik nahestand, entwickelte er nebenher ein elektrophones Instrument, das er Denis d‘or (= Goldener Dionysius oder auch Goldener Diviš ) nannte. Es war von monströsen Ausmassen, hatte 790 Saiten und erinnerte vom Aufbau her entfernt an ein Klavier.
Das Denis d‘or, vom Erfinder auch „Mutationsorchestrion“ genannt, nutzte zur Klangerzeugung angeblich elektromagnetische bzw. elektrostatische Energie, die die Klaviersaiten zum Schwingen brachte. Das Instrument hatte 130 Register zum Variieren der Klangfarbe. So sollte es in der Lage sein, alle bekannten Saiten- und Blasinstrumente imitieren. Ausserdem hatte Diviš noch ein humoristisches Element eingebaut, das ganz dem Geist der Zeit entsprach: Das Denis d’or konnte seinem Spieler plötzlich und unerwartet einen Stromschlag versetzen.
Da der Effekt weniger überzeugend war als erhofft, konnte sich das erste elektronische Instrument trotz anfänglicher Begeisterung in der Welt der Wissenschaft nicht durchsetzen. Auch für seinen Erfinder blieben die ersehnten akademischen Anerkennungen aus. Vom Goldenen Diwisch wurde nur ein Exemplar gebaut, das der Nachwelt leider nicht erhalten geblieben ist.
Heute gehen Naturwissenschaftler davon aus, dass die vorgebliche „elektromagnetische Erregung von Klaviersaiten“ beim Denis d’or so gar nicht funktioniert haben kann. Ebenso ausgeschlossen wird aus heutiger Sicht die direkte Beeinflussung oder Erregung der straff gespannten Saiten durch statische Elektrizität. Denn mit den Mitteln, die Diviš damals zur Verfügung standen, hätte er die dazu erforderliche Energie gar nicht produzieren können. Allenfalls wäre es möglich gewesen, die Saiten mit Gegenständen anzuschlagen, die durch Elektrizität in Bewegung gesetzt worden waren. Dazu hätten auch die zur Verfügung stehenden elektrostatischen Kräfte ausgereicht.
Jean-Baptiste Delaborde und sein Clavessin électrique
Das zweite elektrische Klavier wird von vielen heute als das eigentlich erste betrachtet. Sein Erfinder, der Pariser Jean-Baptiste Delaborde, war ebenfalls ein katholischer Priester, der sich nebenher als Forscher und Erfinder betätigte. Im Jahr 1759 oder 1760 erfand er ein elektrisches Cembalo, dessen Aufbau und Funktionsweise sehr gut dokumentiert wurden.
Delaborde nannte sein Instrument „Clavessin électrique“. Er baute ein Exemplar, das die alle neugierigen Bürger und Gelehrten bei ihm zu Hause besichtigen und anhören konnten. Es erregte einiges Staunen und viel Bewunderung in der Öffentlichkeit. Die entsprechenden Unterlagen und auch das Instrument selbst befinden sich in der französischen Nationalbibliothek – so weiss man, anders als beim Denis d’or, heute noch genau, dass und wie das Instrument funktionierte.
Das Clavessin électrique hat eine nur zwei Oktaven umfassende Klaviatur, in der durch Reibung elektrischer Strom erzeugt wird. Der wiederum setzt die Klavierhämmerchen in Bewegung, die dann Töne erzeugen, indem sie kleine Glocken anschlagen. Genauer betrachtet ist das Clavessin électrique also eigentlich kein Klavier, sondern ein elektrisch zu bedienendes Glockenspiel.
Ganz exakt betrachtet hatte Delabordes damit auch noch nicht die elektronische Klangerzeugung erfunden, sondern das erste überlieferte elektrische Interface gebaut – also eine elektrische Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, in diesem Fall zwischen den Fingern des Spielers und einer herkömmlichen Mechanik (Hämmer schlagen auf Glocken) zur Klangerzeugung. Trotzdem gilt das elektrische Cembalo des französischen Jesuiten als das erste historisch verbriefte und funktionierende Instrument, das Klänge mit Hilfe von Elektrizität produzierte.
Das verdankt Delaborde vor allem den ungeklärten Rätseln um die Funktionsweise des Vorläufers Denis d’or. Die einzigen Klänge, von denen man bis heute ganz sicher sein kann, dass sie direkt vom Denis d’or erzeugt wurden, sind die, die der erschrockene Spieler nach dem Stromschlag von sich gab – und die dürften auf der Bühne für reichlich Nervenkitzel und im Publikum für schadenfrohe Belustigung gesorgt haben.
Ausblick auf Teil 2
Im nächsten Teil der Serie geht es um das 19. Jahrhundert, in dem vieles erfunden wurde, das die elektronische Klangerzeugung, wie sie heute bekannt und definiert ist, überhaupt erst ermöglichte. Dazu gehören auch das Telefon und die ersten Tonaufzeichnungen mittels Schallplatte und Plattenspieler.
Fazit: Elektronische Musik gilt vielen heute noch als Neuland. Tatsächlich lässt sich die elektrische Klangerzeugung immer wieder neu erfinden und weiterentwickeln. Doch ihre Anfänge liegen mehr als 250 Jahre in der Vergangenheit – und am Anfang stand die Faszination für Strom.
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