Der Neuenburgersee und das Geheimnis der riesigen Krater
von Romy Schmidt
Einen nicht nur unerwarteten, sondern auch aussergewöhnlichen Fund machten Geologen der ETH Zürich zufällig auf dem Grund des Neuenburgersees. Mit anderen Worten: Sie entdeckten mit den vier sich dort befindenden Kratern eine geologische Sensation.
Der Ursprung dieser riesigen Krater ist nicht vulkanisch, es handelt sich vielmehr um Wasserquellen von enormer Grösse. So sprudelt aus gigantischen Schloten vermutlich schon seit Jahrtausenden Sickerwasser aus dem Jura.
Die Entdeckung erfolgte im Rahmen einer Dissertation
Anna Reusch, die am Institut für Geologie des Swiss Federal Institute of Technology in Zürich an ihrer Dissertation arbeitet, war am Morgen der Entdeckung mehr als erstaunt. Sie war auf dem Neuenburgersee mit ihrem Forschungsboot unterwegs, um eine Routine-Messfahrt zu absolvieren. Plötzlich sah sie, dass sich auf dem Kontrollbildschirm eine aussergewöhnliche Kontur abzeichnete. In mehr als 100 Metern Tiefe unter dem Boot war etwas, das zuvor wohl noch niemand bemerkt hatte. Augenblicklich kontaktierte sie ihren Doktorvater Michael Strasser, um ihn über den Fund zu informieren und ihm mitzuteilen, dass er kommen und sich das unbedingt ansehen solle.
Bereits die eher rudimentäre Datenauswertung an Bord liess vermuten, dass die Doktorandin und ihre Forscherkollegen eine wissenschaftliche Sensation entdeckt hatten: einen mit einem Durchmesser von 160 Metern und einer Tiefe von 10 Metern überdimensionalen Krater auf dem Grund des Sees. Reusch konstatierte: Die Ereignisse dieses Tages würden ihr ewig in Erinnerung bleiben und hätten ihre Erwartungen übertroffen. Zudem zeige der Fund, dass auch im 21. Jahrhundert in der Schweiz noch aufregende und spannende Entdeckungen gemacht werden könnten.
Auf der Suche nach tektonisch aktiven Zonen
Eigentlich bearbeitete die Doktorandin im Rahmen des Projekts „Dynamite“ des Schweizerischen Nationalfonds ein Teilprojekt, das das Ziel hatte, die Sedimente der Seen des westlichen Schweizer Mittellandes zu untersuchen, um Hinweise auf vergangene Erdbeben aufzuspüren. Aus diesem Grund wurde der Seeboden hochauflösend vermessen. Ziel war es, festzustellen, ob auf dem Grund des Neuenburgersees Hinweise darauf zu finden sind, dass es dort tektonisch aktive Zonen gibt, durch die in geologisch jüngerer Zeit, nämlich in den letzten 12’000 Jahren, grössere Erdbeben verursacht wurden.
Allerdings stellte die Entdeckung des riesigen Kraters im Neuenburgersee Reuschs Forschungen gehörig auf den Kopf. Und es ist kaum verwunderlich, dass die Geologin den Krater so interessant fand, dass sie dieses Phänomen unbedingt genauer erforschen wollte.
Insgesamt konnten vier Krater im See ausgemacht werden
Das Forscherteam konnte letztlich auf dem Grund des Sees vier Krater ausfindig machen, die alle am Nordwestufer und in einer Tiefe von mehr als 100 Metern liegen. Sie sind zwischen 5,5 und 30 Meter tief und besitzen einen Durchmesser zwischen 80 und 160 Metern.
Aufgrund seiner kreisrunden Form und seiner ungewöhnlichen Ausmasse haben die Wissenschaftler den grössten der Krater – der eigentlich Chez-le-Bart heisst – auf den Spitznamen „Crazy Crater“ getauft. Krater auf dem Meeresboden, die eine vergleichbare Struktur aufweisen, werden im Allgemeinen durch Strömungen verformt. Einem weiteren, aus drei Teilen, nämlich einem grossen älteren und zwei kleineren jüngeren, bestehenden Krater gaben die Wissenschaftler den Namen „Treytel-Krater“.
Die vier in einer Verlängerung der bekannten tektonischen Bruchzonen gelegenen Krater wurden von dem Wissenschaftlerteam in einem Aufsatz, der im Fachmagazin „Geophysical Research Letters“ erschienen ist, genauer beschrieben.
Entnahme von Bohrkernen nicht möglich
Bei weiteren Untersuchungen entdeckten die Wissenschaftler am Fuss des zehn Meter tiefen Chez-le-Bart-Kraters einen Schlammdeckel, unter dem sich ein 60 Meter tiefer Schlot befindet. Dieser ist gefüllt mit einer dicken Suspension aus Sediment und Wasser. Zudem dringt kontinuierlich aufsteigendes Wasser von unten in den Schlot. So werden die Sedimente in Bewegung gehalten und können sich – anders als normale Seesedimente – nicht verfestigen. Aufgrund dieser Tatsache gelang es den Forschern nicht, Bohrkerne aus dem Schlot zu entnehmen.
Die Erkenntnis, dass aus den Kratern Wasser und keinesfalls Gas aufstösst, gelang den Forschern mithilfe von Messungen der Temperaturen des Wassers, der Sedimente sowie der Suspension und des sogenannten isotopen Fingerabdrucks. Während das Sediment um den Krater und das Tiefenwasser eine Temperatur von 5,8 Grad aufweisen und der normalen Temperatur in diesen Seetiefen entsprechen, ist die Suspension 8,4 Gras warm, was der normalen Wasseroberflächentemperatur im angrenzenden Karstgebiet gleicht. Interessant ist zudem, dass die sich im Inneren des Schlotes befindende Suspension im Vergleich zum umgebenden Seewasser einen geringeren Anteil des schweren Sauerstoff-Isotops 18 enthält. Diese differenzierenden Sauerstoffsignale, erklärt Reusch, seien Hinweise darauf, dass es sich um zwei unterschiedliche Wasserkörper handle.
Bei den Kratern handelt es sich um gigantische Quellen
Aufgrund dieser Erkenntnisse geht die Geologin davon aus, dass die Krater im Neuenburgersee mit dem angrenzenden Karstsystem des Juras in Verbindung stehen. So könnte das dort versickernde Wasser im Untergrund unter den Grund des Neuenburgersees fliessen und sich dann den Weg des geringsten Widerstandes suchen, um an die Oberfläche zu gelangen. Dabei werden die meterdicken, über Jahrtausende am Boden des Sees abgelagerten Sedimentschichten vom Wasser durchstossen. Anders formuliert: Bei den Kratern handelt es sich um Quellen.
Anna Reusch erläutert, dass Sedimentbohrkerne aus dem direkten Umfeld der Krater ergeben hätten, dass die Suspension ab und an über den Kraterrand trete, vergleichbar mit einer Vulkaneruption. Dies, so konstatiert Reusch weiter, sei seit der letzten Eiszeit mindestens vier Mal vorgekommen, allerdings habe der älteste Auswurf vor mehr als 12’000 Jahren und der jüngste wahrscheinlich vor 1600 Jahren stattgefunden. Unerforscht ist bis dato, wodurch die Eruptionen ausgelöst werden, denn hierfür sei ein Langzeit-Monitoring notwendig, in dessen Rahmen die Überwachung des Pegelstandes der Suspension im Krater erfolgen müsse.
Aufgrund dieser Erkenntnisse konnte das Wissenschaftlerteam unterschiedliche Ursachen für die Quellkrater ausschliessen: Ein Asteroideneinschlag beispielsweise sei ein einmaliger Vorgang, so dass die Krater im Laufe der Zeit mit einer Sedimentschicht bedeckt worden wären. Und auch die Vermutung, es könne sich um Krater von Bomben handeln, konnte rasch verworfen werden, denn vor 12’000 Jahren gab es diese noch nicht.
Desiderat Schweizer Seen bietet viel Raum für weitere Forschungsarbeiten
Allerdings haben die Forscher noch keine Erkenntnisse darüber, wie die Krater damals entstanden sind. Weitere offene Forschungsfragen sind zudem, wo das Einzugsgebiet des Kraterwassers im Jura liegt, welche Faktoren Auswirkungen auf die Aktivität der Schlote haben und ob bei den Eruptionen Gas – beispielsweise aus Verwesungsprozessen – beteiligt ist. Des Weiteren muss geklärt werden, ob Erdbeben oder starke Niederschläge eine Rolle bei den Ausbrüchen spielen, wie gross die Menge des ausgeworfenen Materials ist und ob sich die Krater derzeit in einer aktiven Phase oder im Normalzustand befinden. Interessant ist auch, ob sich in den bis jetzt noch nicht erforschten Flachwasserbereichen des Neuenburgersees weitere Krater befinden. All diese Fragen rund um die Krater, so Reusch, böten noch ausreichend Stoff für weitere Dissertationen.
Die bis heute von den Geologen untersuchten Krater befinden sich allesamt in Wassertiefen von 100 Metern und mehr. Ob es derartige auch als Pockennarben bezeichnete Krater auch in den Flachwasserbereichen des Neuenburgersees gibt, ist noch unklar. So wurden bis dato lediglich die Zonen des Gewässers, die tiefer als 30 Meter sind, mit einem Sonargerät abgesucht und die Flachwasserbereiche bis jetzt nicht kartiert.
Zur Vermessung und Kartierung der Seen nutzen die Wissenschaftler ein hochauflösendes, modernes Fächer-Sonar. Bisher verwendeten Wissenschaftler derartige Geräte vorrangig dazu, den Meeresboden zu vermessen. Das Sonar wird mittlerweile stark beansprucht, denn die Schweizer Seen sind verglichen mit der Geländeoberfläche des Festlandes noch immer recht schlecht erforscht. So wird der Grund vieler Schweizer Seen erst seit ein paar Jahren wissenschaftlich und mit hochauflösenden Instrumenten untersucht und vermessen. Kein Wunder also, dass Phänomene wie die Krater am Grund des Neuenburgersees erst jetzt entdeckt wurden.
Oberstes Bild: © Imagepro – CC BY-SA 3.0