Herausforderungen für Gesundheitssysteme in Europa
Ärzte in Frankreich und Deutschland haben einen deutlich grösseren Handlungsspielraum bei der Verschreibung von Medikamenten als jene in Italien und Grossbritannien. Zu diesem Ergebnis kommt die Bain-Studie.
Während französische (80 Prozent) und deutsche Mediziner (62 Prozent) ihre Entscheidungen hinsichtlich der Medikamentenverschreibung weitestgehend selbstbestimmt treffen, sind Ärzte in Italien (38 Prozent) und Grossbritannien (25 Prozent) deutlich eingeschränkter.
Dies hängt vor allem mit der Regulierung der einzelnen Gesundheitsmärkte zusammen. Je stärker ein Markt reguliert und systematisiert ist – so wie in Grossbritannien und Italien -, desto spürbarer greifen die Krankenversicherer in die Entscheidungshoheit der Ärzte ein.
Dies hat die aktuelle Studie „Front Line of Healthcare Report 2016“ der internationalen Managementberatung Bain & Company ergeben, für die in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Italien neben Klinikärzten und Krankenhausmanagern auch niedergelassene Ärzte befragt wurden.
Bei der Auswahl verschreibungspflichtiger Medikamente ist für die Ärzte in allen vier EU-Ländern eine ausreichende Datenbasis durch vergleichende und evidenzbasierte Studien das wichtigste Kriterium. Beim Preis allerdings enden die Gemeinsamkeiten.
Während britische (61 Prozent) und deutsche Ärzte (57 Prozent) es für wichtig halten, ihren Patienten ein möglichst preisgünstiges Medikament zu verschreiben, hat der Preis in Italien (42 Prozent), vor allem aber in Frankreich (19 Prozent) weit weniger Gewicht. Die Reputation eines Medikamentenherstellers spielt für die Ärzte insgesamt eine untergeordnete Rolle.
Defizite bei Bereitstellung wissenschaftlicher Informationen
Als Manko empfinden Ärzte in Frankreich, Grossbritannien und Italien insbesondere die Bereitstellung wissenschaftlicher Informationen. Auch die Weiterbildung durch die Hersteller ist ihrer Ansicht nach nicht ausreichend.
In Deutschland sehen Mediziner andere Defizite. Ihnen fehlt es vor allem an Transparenz und ethischem Verhalten beispielsweise in Bezug auf die Bereitstellung vergleichbarer Wirksamkeitsdaten aus klinischen Studien und Real World Evidence sowie bei der Preisfestsetzung der Medikamente und Therapien.
In puncto Beschaffung von Informationen sind medizinische Fortbildungen und Konferenzen für die meisten Ärzte (72 Prozent) in den vier untersuchten Ländern noch immer die mit Abstand wichtigste Quelle.
Danach folgen Fachzeitschriften, die für die Hälfte der Befragten von Bedeutung sind. Immer häufiger nutzen Mediziner aber auch Datenbanken der Gesundheitsämter. Jeder Dritte recherchiert dort Informationen – ein Plus von 6 Prozent gegenüber 2013 (Abb. 1), der letzten entsprechenden Erhebung von Bain.
Das traditionell sehr enge Verhältnis zu Pharmavertretern nimmt hingegen zugunsten anderweitiger Informationsbeschaffung ab. Gaben vor drei Jahren noch 53 Prozent der Ärzte in Europa an, dass Pharmavertreter zu ihren drei wichtigsten Informationsquellen zählen, sind es in der aktuellen Studie nur noch 43 Prozent.
In Deutschland ist dieser Abwärtstrend besonders stark. Während 2013 noch 52 Prozent die Pharmavertreter als eine der drei wichtigsten Informationsquellen nannten, sind es 2016 nur noch 35 Prozent. Und auch in Frankreich ist der Stellenwert der Pharmavertreter im Vergleich zu 2013 gesunken – um zehn Prozentpunkte auf 49 Prozent.
Führende Pharmaunternehmen besonders innovativ
Dennoch werden Pharmahersteller, die mit ihren Wirkstoffen in einem bestimmten medizinischen Bereich in einem Land führend sind, von Ärzten auch als besonders innovativ angesehen. „Pharmahersteller sollten also ihre führende Marktposition in therapeutischen Gebieten weiter ausbauen“, rät Michael Kunst, Bain-Partner und Leiter der Praxisgruppe Healthcare im EMEA-Raum.
Und er fügt hinzu: „Wollen sie auch künftig direkter Ansprechpartner für die Ärzte sein, müssen sie ihnen auf verschiedenen Kanälen verifizier- und vergleichbare wissenschaftliche Informationen über Arzneimittel und Therapien zur Verfügung stellen. Nur so können pharmazeutische Unternehmen den steigenden Informationsbedarf decken und die wissenschaftliche Liaison aufrechterhalten.“
Quelle: Bain & Company
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