Blatten VS: ETH erklärt Gletscherkollaps – Felsstürze setzten Birchgletscher unter Druck

Am Mittwoch ist der Birchgletscher unter der Last von Fels- und Schuttmassen eingebrochen, die von Felsstürzen am Kleinen Nesthorn stammten.

In einem Faktenblatt erläutern ETH-Forschende die Hintergründe des katastrophalen Abbruches, der das Dorf Blatten verschüttet hat.

Auf einem Foto ist der Birchgletscher abgebildet, kurz bevor er endgültig abbrach.

Der nach-vorne gewölbte Birchgletscher, bedeckt mit Gestein, das vom Kleinen Nesthorn herunterstürzte. Das Foto entstand am 23. Mai 2025, fünf Tage vor dem Gletscherabbruch.


In Kürze

  • Der Gletscherabbruch des Birchgletschers ist mit seinem Volumen und seinem Schadensausmass ausserordentlich für den Schweizer Alpenraum.
  • Mehrere Felsstürze vom Kleinen Nesthorn oberhalb des Birchgletschers spielten eine wichtige Rolle beim Gletscherabbruch. Die Details werden noch untersucht.
  • Das aufgehäufte Gestein erhöhte den Druck auf das Gletschereis und trug zur Destabilisierung des Birchgletschers bei – bis er schliesslich abbrach.


Ein Gletschereinsturz mit dem Volumen und Schadensausmass wie bei jenem des Birchgletschers, der am Mittwoch das Walliser Dorf Blatten verschüttete, ist für die Schweizer Alpen ausserordentlich. Zwar brach beim Fels- und Eissturz am Piz Scerscen im April 2024 eine – mit geschätzten acht bis neun Millionen Kubikmetern – vergleichbare Menge an Eis und Schutt ab wie jetzt im Lötschental. Allerdings richtete der Abbruch im Engadin keine solchen Schäden an wie in Blatten.

Die genauen Ursachen des Gletscherabbruchs vom Mittwoch sind zwar noch lange nicht restlos geklärt, betont Daniel Farinotti, Professor für Glaziologie an der ETH Zürich und der Forschungsanstalt WSL. Namentlich sei noch nicht abschliessend klar, ob äussere Faktoren oder vor allem Vorgänge im Inneren des Gletschers den Abbruch letztlich auslösten.

Da Behörden und Forschende den Gletscher seit Jahren überwachen, gibt es jedoch deutliche Anzeichen dafür, dass mehrere Felsstürze und eine Geländeverschiebung am Kleinen Nesthorn, dem Berg oberhalb des Gletschers, die Hauptauslöser des Gletscherabbruchs sind.

„Wir wissen, dass es schon vor dem Abbruch am Mittwoch mehrere Felslawinen gab und sich deswegen Gesteinsmassen auf dem Gletscher ansammelten“, sagt Daniel Farinotti, der mit den ETH- und WSL-Forschenden Matthias Huss und Mylène Jacquemart ein Faktenblatt verfasst hat, das den aktuellen Kenntnisstand aus Sicht der Gletscherforschung zusammenfasst.

„Mit diesen Daten und unseren Kenntnissen versuchen wir Forschende die Behörden zu unterstützen, die unter schwierigsten Bedingungen unglaubliche Arbeit leisten, um den Überblick über die Situation zu behalten und die Lage für die Menschen zu verbessern“, sagt Farinotti.



Birchgletscher bewegte sich schon länger

Die aufgehäuften Gesteinsmassen – die Behörden schätzen sie auf 9 Mio. Tonnen – erhöhten den Druck auf das Gletschereis und begünstigten die Bildung von Schmelzwasser an der Basis des Gletschers. Der steigende Wasserdruck destabilisierte zusammen mit dem eindringenden Regen und den instabil gewordenen Bergpartien den Birchgletscher und beschleunigte den Eisfluss. Dadurch bewegte sich der Gletscher immer stärker talabwärts – bis es zum Abbruch kam.

Die ungewöhnliche Talbewegung des Birchgletschers war den Forschenden und den Behörden schon vor Längerem aufgefallen. Entsprechend wurde die Beobachtung der Vorgänge beim Kleinen Nesthorn verstärkt. Da die Gletscher in der Schweiz insgesamt zurückgehen, war den ETH-Forschenden, welche die Gletscherentwicklung zusammen mit den Universitäten Fribourg und Zürich im Gletschermessnetz GLAMOS dokumentieren, aufgefallen, dass im unteren Birchgletscher ab 2019 die Gletscherfront rund 50 Meter vorgestossen war.

Die Beobachtungsdaten zeigen zudem, dass die Eisdicke an der Gletscherzunge zwischen 2017 und 2023 um bis zu 20 Meter zunahm, während der obere Gletscherteil dünner wurde. Diese Zunahme hängt ebenfalls mit dem Gestein auf dem Gletscher zusammen, weil dies die Gletscherschmelze an der Oberfläche reduzierte.

Vergleich mit anderen Eis- und Felsstürzen

Das Kleine Nesthorn und der Birchgletscher wurden seit den 1990er-Jahren, als zwei Schnee- und Eislawinen einen Teil der lokalen Infrastruktur beeinträchtigte, genauer überwacht. Ein Teil der Entwicklung des Birchgletschers wird auch anhand von Satellitenbildern ersichtlich.

Der Gletscherabbruch oberhalb von Blatten hat gewisse Parallelen zum Felssturz am Pizzo Cengalo im Jahr 2017, bei dem rund drei Millionen Kubikmeter Felsmaterial auf einen kleinen Gletscher stürzten, diesen teilweise mitrissen und einen Murgang auslösten. Dieser verursachte schwere Schäden an der Infrastruktur im Dorf Bondo. Damals kamen acht Personen ums Leben.

Im russischen Kaukasus kam es am 2. September 2002 zum noch viel grösseren Kolka-Karmadon-Gletscherkollaps, bei dem 100 Millionen Kubikmeter Eis bis zu 19 Kilometer talabwärts stürzten, das Dorf Nizhniy Karmadon verschütteten und 125 Todesopfer forderte. Im Wallis konnten die systematische Überwachung und die vorsorgliche Evakuierung des betroffenen Dorfes Blatten eine solche Tragödie zum Glück vermeiden.

 

Quelle: ETH Zürich / Florian Meyer
Bildquelle: KEYSTONE / Jean-Christophe Bott

Für Wallis

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