Viele Unternehmen suchen händeringend Lehrlinge
von Olaf Hoffmann
Der Fachkräftemangel in der Schweiz geht in eine neue, nicht ganz unbekannte Runde.
Zwar entscheiden sich immer mehr Schüler nach der Schule für die Matura – den produzierenden Unternehmen vor allem im technischen Bereich bringt das aber nichts.
Es wird ein Heer von Doktoren und anderweitig wissenschaftlich hochqualifizierten Fachkräften herangebildet, in den technischen Berufen hingegen fehlen die Lehrlinge.Teils händeringend und mit besonderem Einfallsreichtum versuchen nun die betroffenen Unternehmen, wieder attraktiver für Schulabgänger zu werden.
Wert der Ausbildung in Frage gestellt
Vor allem gute Schüler und deren Eltern fragen sich, ob eine klassische Lehrausbildung wertvoll für die Lebensgestaltung sein kann. Dabei werden vor allem die Chancen verglichen, die eine Lehrausbildung im Abgleich zu einem Studium bringen kann. Meist werden dabei auch finanzielle Erwägungen im Mittelpunkt der Gegenüberstellung einbezogen. Interessen und Neigungen folgen dann gleich auf Platz zwei der Rangliste bei der Entscheidung für eine Lehre oder für die Matura.
Letztlich spielt es natürlich auch eine Rolle, welche Einblicke in die produktive Arbeit überhaupt vorhanden sind und welche Vorbildrolle Eltern bei der Berufswahl spielen. In einer Gesellschaft, in der Büroberufe, Managementkarrieren und wissenschaftliche Berufe mehr anerkannt sind als beispielsweise technische Berufe, ist es schwer, sich für den Einstieg in die Produktion zu entscheiden.
Besonders dann, wenn die Ergebnisse der schulischen Grundausbildung auch andere Möglichkeiten mit Aussichten auf mehr Gehalt und eine steilere Karriere eröffnen. Da bleiben die offenen Lehrstellen bestenfalls noch für durchschnittliche oder schlechtere Schüler interessant. Das erfüllt allerdings nicht die Bedingungen, die moderne Unternehmen an gut qualifizierte Fachkräfte stellen.
Junge Leute für eine technische Ausbildung begeistern
Allmählich gehen die Unternehmen mit Lehrstellenbedarf gerne auch neue Wege bei der Akquirierung neuer Auszubildender. Ein probates Mittel ist dabei der Weg direkt in die Schulen. Ausbildungspartnerschaften bringen die Schüler beispielsweise im Werkunterricht direkt in die Arbeitsbereiche in den Betrieben und eröffnen so konkrete Einblicke in die Produktion und Entwicklung.
Ob Technisches Zeichnen oder praktische Arbeit, die Möglichkeiten sind vielfältig und breit gefächert. Auf diese Weise sollen die Schüler nicht nur an die technische Arbeit an sich herangeführt werden. Vor allem geht es darum, Interesse für die angebotenen Ausbildungsstellen zu fördern und auf diesem Weg vielleicht den einen oder anderen Lehrling zu gewinnen.
Bekanntes Modell
Das Modell ist weder neu noch unerprobt. Bereits in der (untergegangenen) DDR im Osten Deutschlands war eine polytechnische Ausbildung Standard. Die Polytechnischen Oberschulen waren die meist besuchte Schulform, welche die Schüler von der 1. bis zur 10. Klasse mit einer guten Allgemeinbildung und polytechnischen Erfahrungen und Kenntnissen ausgestattet haben.
So gab es dort beispielsweise in den höheren Klassen das Unterrichtsfach „Praktische Arbeit“ (kurz PA, manchmal auch UTP = Unterrichtstag in der Produktion). Dabei wurde regelmässig aller 14 Tage an einem Vormittag in der Woche in einem Unternehmen der Region gearbeitet. Die praktische Unterweisung erfolgte in Produktionsbetrieben an Maschinen und Anlagen genauso wie in der Landwirtschaft oder in Lagerbetrieben.
In jedem Fall hatten die Schüler die Möglichkeit, einen direkten Einblick nicht nur in den Betrieb an sich, sondern vor allem auch in die konkrete Arbeit zu gewinnen. Daraus resultierend entschieden sich viele auch gute und sehr gute Schüler für die Aufnahme einer Lehrausbildung im betreffenden Unternehmen. Ein polytechnischer Unterricht kann somit auch ein Beitrag zur Besetzung vakanter Lehrstellen besonders in der mittelfristigen Entwicklung von Unternehmen sein.
Schmutzige Hände mit Ergebnis oder feines Büro mit Visionen?
Dies ist für viele Schulabgänger eine entscheidende Frage. Sich die Hände schmutzig machen und an echten Produkten arbeiten oder lieber doch in einem schicken Büro sitzen und an Planungskennziffern herumdoktern, vor dieser Wahl stehen viele gute und sehr gute Schüler.
Bei der Entscheidung haben die Eltern oftmals direkt oder indirekt ein gewichtiges Wörtchen mitzureden. Vor allem die Tatsache, dass zunehmend mehr Eltern selbst in Bürotätigkeiten beschäftigt sind, hält viele junge Leute von der Produktion fern. Dabei ist die nicht zwingend schmutzig, laut und körperlich anstrengend, sondern kann auch durchaus höhere Ansprüche an die jungen Leute stellen. Das muss aber erst erkannt werden. Der Weg zur Erkenntnis führt bekanntermassen oftmals über das Probieren und die entsprechenden Erfahrungen. Auch aus dieser Sicht kann es wichtig und hilfreich sein, wenn die Unternehmen zunehmend auch in die Schulen und umgekehrt die Schulen in die Unternehmen gehen.
Entschärfung des Fachkräftemangels in ein gesamtgesellschaftliches Anliegen
Die Betriebe allein können den Fachkräftemangel vor allem in der Produktion nicht selbst umkehren. Dazu bedarf es der Anstrengungen und Initiativen der gesamten Gesellschaft. Politische Statements ohne greifbar praktische Ansätze sind da ebenso wenig hilfreich wie das einseitige Setzen auf ausländische Fachleute.
Besonders die Schule als Einrichtung für das lebensbezogene Lernen ist gefragt, wenn es um Lehrlinge für die Zukunft geht. Eine moderne Wirtschaftsgesellschaft braucht eben nicht nur Doktoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Manager und Büroarbeiter, sondern vor allem auch produktiv tätige Menschen, die als echte Fachkräfte für hochwertige und innovative Produkte tätig sind. Der Schritt in eine reine Verwaltungsgesellschaft macht die Schweiz ärmer und vor allem auch abhängiger und im internationalen Vergleich weniger interessant. Allein das sollte schon Grund genug sein, eine Lehrausbildungsinitiative für technische und ähnliche Berufe auf eine breite gesellschaftliche Basis zu stellen.
Hintergrund
Im August 2013 waren insgesamt mehr als 8500 Lehrstellen in den Schweizer Betrieben noch nicht besetzt. Tendenz steigend.
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