"Conchita Wurst": Was der Eurovision-Sieg für Europa bedeutet - und was nicht
von Alin Cucu
Während die einen es als Sieg für Toleranz und Fortschrittlichkeit in Europa werten, platzt konservativen Politikern, Geistlichen und Kolumnisten die Hutschnur. Den Niedergang der abendländischen Kultur wähnen die einen, die anderen eine hochstilisierte Provokation Russlands. Was – und wer – ist Conchita Wurst alias Thomas Neuwirth wirklich?
Rouge-gepuderte Haut, aufgespritzte Lippen, wallende dunkle Haare, Abendkleid, Vollbart. So trat Thomas Neuwirth (25) aus Österreich, besser bekannt unter seine Künstlernamen Conchita Wurst, beim diesjährigen Eurovision Song Contest an in Kopenhagen an – und gewann.
Wer oder was ist Conchita Wurst?
Um das Phänomen Conchita Wurst zu verstehen, ist es zunächst einmal ratsam, Neuwirth selbst zu Wort kommen zu lassen. Dieser erklärt laut Wikipedia die Schaffung seines Alter Ego mit den Diskriminierungen, die er in seiner Jugend wegen seiner Homosexualität zu erleiden hatte. Den Namen Conchita habe er von einer Freundin aus Kuba bekommen, den Nachnamen Wurst wählte er „weil es eben ‚wurst‘ ist, woher man kommt und wie man aussieht“.
Im Gegensatz zu anderen Travestie-Künstlern ist bei Conchita Wurst kein kompletter Ersatz männlicher Attribute durch weibliche zu beobachten. Die Drag Queen mit einer fiktiven Biografie von der Geburt in den kolumbianischen Bergen über eine Kindheit in Deutschland bis hin zur Sängerkarriere in Österreich vereint männliche und weibliche Elemente in sich. Besonders der Bart sticht heraus, den Neuwirth selbst als Mittel bezeichnet „zu polarisieren, auf mich aufmerksam zu machen“. Er wünsche sich „dass sich die Leute ausgehend von meiner ungewöhnlichen Erscheinung Gedanken machen – über sexuelle Orientierung, aber genauso über das Anderssein an sich.“
Unterkühlte österreichische Öffentlichkeit und harsche Kritik aus Russland
Soweit Thomas Neuwirth über Conchita Wurst. Durchaus anders klingen die Stimmen der österreichischen Öffentlichkeit. Auf krone.at, dem Online-Portal der grössten österreichischen Boulevardzeitung, stimmten 75 Prozent bei der Frage „Sind Sie stolz auf Conchita Wurst?“ mit Nein. Auch Politiker, allen voran der rechtsgerichteten FPÖ, hatten sich bereits im Vorfeld eher abfällig über Österreichs Vertreter beim ESC geäussert. Deftige Worte fand der Kabarettist Alf Poier, der Wursts Auftritt als „verschwulte Zumpferl-Romantik“ bezeichnete, nach dem Sieg aber brav gratulierte und sich für seine Wortwahl entschuldigte.
Am weitesten in ihrer Kritik gingen jedoch österreichische Katholiken. Bereits vor dem Wettbewerb schrieb das Internetportal „Katholisches.info – Magazin für Kirche und Kultur“, Conchita Wurst sei ein „ideologisiertes Produkt“, ihr Auftritt bei ESC eine „Schande für Österreich“. Die Autoren vermuten hinter der Aufstellung Wursts als Kandidat(in) eine „Clique Medienschaffender“, die „im eigenen Land und auf internationaler Ebene Homo-Propaganda“ betreiben wollten. Harsche Kritik kommt interessanterweise auch aus Russland. Hier sprach ein TV-Moderator von einem „Begräbnis traditioneller Werte“, Vizeregierungschef Dmitri Rogosin schrieb auf Twitter, mit dem Sieg Wursts zeige sich den „Anhängern einer europäischen Integration, was sie dabei erwartet – ein Mädchen mit Bart“.
Provokation und Moralverfall? Eine nüchterne Betrachtung
Wie ist das „Phänomen Conchita Wurst“ nun zu werten? Zunächst einmal muss man ganz nüchtern festhalten, dass der Sieg des Travestie-Künstlers das Ergebnis eines Telefon-Votings ist – Menschen in ganz Europa hat der Auftritt Conchita Wursts offenbar gesamtkünsterisch am meisten überzeugt. Insofern müsste man den Vorwurf der Dekadenz eher gegen den Teil der Europäer erheben, die für Wurst gestimmt haben. Freilich darf hinterfragt werden, warum denn nun genau Thomas Neuwirth ins Rennen geschickt wurde, zumal die Kandidatenauswahl beim ORF unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte – aus Sparzwängen angeblich.
Hier hilft die sachliche Analyse von Reinhard Hempelmann, Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) in Berlin. Er sagte, die „Kunstfigur“ Conchita Wurst eigne sich nicht dafür, im Meinungsstreit instrumentalisiert zu werden, da der „provokative und skurrile Auftritt“ Aufmerksamkeit suche und an Erfolgs- und Vermarktungsinteressen orientiert sei. „Er taugt nicht, daraus Urteile über wachsende Toleranz oder einen drohenden europäischen Kulturverfall abzuleiten.“
Solch nüchterne Betrachtungen tun gut in einer Atmosphäre, die durch den Ukraine-Konflikt und die militant konservative Haltung der russischen Regierung aufgeheizt ist. In Russland empfindet man seit langem die liberale Einstellung in der EU gegenüber der Homosexualität als Belastung für die Beziehungen, in Europa umgekehrt die „Homophobie“ Moskaus als Menschenrechtsverletzung und feudal anmutendes Relikt längst vergangener Zeiten. Nicht wenige sehen deshalb im Auftritt Conchita Wursts einen Protest gegen Russlands Grossmachtstreben – oder besser gesagt, sie machen ihn zu einem.
Denn dass die Medienmacher hinter Conchita Wurst bewusst Wladimir Putin, die Katholische Kirche oder das abendländische Moralverständnis provozieren wollten, ist ein eher abwegiger Gedanke. Schon fast vergessen scheint in diesem Zusammenhang, dass bereits 1998 die transsexuelle Dana International aus Israel den ESC gewann. Unsere Gesellschaft ist nicht erst seit letzten Samstag im Wandel. Doch symbolträchtig ist Conchita Wurst allemal, viele LSBTTQIs werden sich mit ihm/ihr identifizieren können.
Europa – ein Kontinent auf der Suche nach sich selbst
Und dennoch: Ganz ohne Moral ist die Geschichte nicht. Und damit ist nicht gemeint, dass Conchita Wurst viel Zuspruch erhalten und somit die Gewöhnung an alternative sexuelle Orientierungen einen weiteren Schub bekommen hat. Nein, damit sind die unterkühlten Voten gemeint, die aus der österreichischen Gesellschaft (siehe oben) kamen, aber auch aus der deutschen Medienlandschaft. „Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner etwa schrieb: „Ich persönlich liebe keine Frau mit Bart“. Über Lena Meyer-Landrut, die den Song Contest 2010 für Deutschland gewonnen hatte, fand er ganz andere Worte: „Deutschland ist blind verliebt in Lena“.
Stern.de-Autor Carsten Heidböhmer wähnt hierin eine dunkle Vorahnung, was mit einem deutschen Travestie-Künstler medial geschehen könnte. Er wirft gleichzeitig den österreichischen Politikern Verkrampftheit vor. Vielleicht aber gibt es einfach in Europa noch eine ganze Menge Menschen, die eine hübsche junge Frau ästhetischer finden als androgynes Kunstprodukt. Und die sich trauen, dies zum Ausdruck zu bringen. Europa kann es egal sein, was Putin über Homosexualität denkt. Europa muss sich selbst finden – und es schaffen, wie von Thomas Neuwirth gefordert, allen „Andersdenkenden“ Raum zur Entfaltung zu geben. Allen.
Titelbild: Albin Olsson / Wikimedia / CC