Via Sicura bremst Polizei und Rettungskräfte aus

Mit der zweiten Stufe der Verkehrssicherheitsinitiative soll seit Januar 2014 die Zahl der Verkehrstoten auf Schweizer Strassen deutlich gesenkt werden. Nach dem Via-Sicura-Gesetz werden deutlich empfindlichere Strafen gegen überhöhte Geschwindigkeit ausgesprochen. Diese reichen bis zu einer Gefängnisstrafe und dem Ausweisentzug für bis zu 24 Monate.

Was auf den ersten Blick durchaus begrüssenswert erscheint, hat aber auch seine Fallstricke. Betroffen von solchen Fallstricken sind auch die Fahrer der Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten. Bislang gelten die verschärften Bedingungen des neuen Strassensicherheitsgesetzes der Schweiz nämlich auch für Geschwindigkeitsüberschreitungen bei Rettungsfahrten.

Wenn die Feuerwehr mal später kommt

Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Am Rande der Stadt brennt das Chemielager eines Pharmakonzerns. Dicke Rauchschwaden dringen aus den Gebäuden, meterhohe Flammen schlagen aus den Fenstern, ein bissig giftiger Rauch breitet sich aus. Die Betriebsfeuerwehr zeigt sich überfordert, aber weit und breit ist kein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr zu sehen. Auch nach über einer Viertelstunde hat sich an der Situation nichts geändert.

Während die betrieblichen Löschkräfte vergeblich gegen das Feuer kämpfen, tuckert der Löschzug der Berufsfeuerwehr gemächlich durch die zahlreichen Tempo-30-Zonen der Stadt. Nur noch fünf Kilometer, dann könnte die schleichende Einsatzfahrt ein Ende haben. Die Fahrzeugführer der Löschzüge scheinen angespannt und genervt, getrauen sich aber trotz Blaulicht, Sirenen und freier Strassen kaum aufs Gas zu treten. Schon hinter der nächsten Ecke könnte eine Radarfalle lauern, die dem Fahrzeuglenker dann Gefängnis und 24 Monate Ausweisentzug einbringen dürfte. Die Wahl zwischen schneller Hilfe im Notfall, Gefängnis und dem für die Berufsausübung erforderlichen Ausweis fällt gegen die Notfallrettung aus. Verständlicherweise.

Polizei macht sich zur Witzfigur

Noch während die Feuerwehr durch die Grossstadt tuckert, ereignet sich in einem naheliegenden Stadtbezirk ein Banküberfall. Mit vorgehaltener Waffe erbeuten drei Täter fast eine viertel Million Franken und räumen ganz nebenbei die Taschen der Bankkunden aus. Eilig haben Sie es dabei nicht. Als einer der Kunden sich weigert seine teure Uhr abzugeben, wird er kurzerhand niedergeschlagen. Fast schon gemütlich verlassen die Räuber die Bank, steigen in ihr Fluchtfahrzeug und rauschen davon. Wenig später erschallt irgendwo aus den Nebenstrassen das Sirenengeheul der herbeigerufenen Polizei. Auch die „rauscht“ mit satten 30 Stundenkilometern heran.

Nach kurzem Lagecheck wird klar, dass die Verbrecher noch nicht allzu weit gekommen sein dürften. Immerhin wird die Fluchtroute auch von den schleichenden Feuerwehrfahrzeugen geschnitten. Eine Verfolgungsjagd wird es dennoch nicht geben. Mit Tempo 30 in der Innenstadt praktisch auf Sightseeingtour sind die Möglichkeiten, der Bankräuber habhaft zu werden, eher gering. Und wenn Polizeifahrzeuge im Einsatz behandelt werden wie gewöhnliche Verkehrsteilnehmer, dann lohnt es den Aufwand und das Risiko noch weniger.


Rettungsdienst. (Bild: Mikadun / Shutterstock.com)
Rettungsdienst. (Bild: Mikadun / Shutterstock.com)


Rettungsdienst kommt zu spät

Derweil liegt der schwerverletzte Bankkunde noch immer bewusstlos am Boden, und die behelfsmässig versorgte Kopfwunde blutet noch immer stark. Zur gleichen Zeit ereignet sich an der Brandstelle im Pharmaunternehmen eine starke Explosion. Mehrere Mitarbeiter und Löschkräfte werden durch die Luft geschleudert. Doch der Rettungsdienst wird wohl noch eine Weile brauchen, bis er an den Einsatzorten eingetroffen ist. In der Zwischenzeit werden fünf Verletzte sterben, darunter der Bankkunde und drei Feuerwehrleute. Wären die Rettungskräfte nur wenigen Minuten früher eingetroffen, hätte das vielleicht vermieden werden können.

Die Bilanz eines Tages

Am Abend steht fest, dass insgesamt sieben Menschen diesen Tag nicht überlebt haben. Brutale Gewalt, der Unglücksfall im Chemielager und das viel zu späte Eintreffen von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten tragen massgeblich Schuld am vielfachen menschlichen Leid. Dazu kommen Rauchvergiftungen und Vergiftungserscheinungen bei Anwohnern aus der Nachbarschaft des Chemielagers, weil hier nicht rechtzeitig mit der erforderlichen Messtechnik gearbeitet und entsprechende Warnungen ausgesprochen werden konnten. Das Lager ist fast völlig niedergebrannt. Ein Sachschaden von mehreren Millionen Franken lässt sich schon jetzt abschätzen. Dazu addiert sich die Beute der Bankräuber, die sich in aller Seelenruhe aus dem Staub gemacht haben und von denen bislang jede Spur fehlt.

Das Positive des Tages: Keine Verkehrstoten und auch keine Geschwindigkeitsüberschreitungen durch Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte. Was für ein Szenario!

Unsinn mit System

Eine Wahnsinnsvorstellung, die jedoch an jedem Tag Realität werden kann, solange das Via-Sicura-Gesetz bezüglich der Handlungsfähigkeit und Einsatzsicherheit von Einsatzkräften mit Sondersignal nicht überarbeitet wird. Dafür machen sich derzeit einige Parlamentarier stark, die erkannt haben, dass das neue Gesetzeswerk zur Verkehrssicherheit den Belangen von Einsatz- und Rettungskräften in keiner Weise genügen kann.

Mittlerweile befürchten die Einsatzkräfte sogar, dass ihnen schon bald der Nachwuchs ausgehen könnte, wenn das Verkehrssicherheitsgesetz nicht umgehend geändert wird. Denn wer hat schon Lust, beim Führen von Fahrzeugen im Einsatz eine Gefängnisstrafe oder einen Ausweisentzug zu riskieren. Und bislang zeigen sich auch die Richter in konkreten Fällen nur sehr selten auf der Seite der uniformierten Helfer, Retter und Ordnungshüter. Immerhin wird besonders von den Staatsbediensteten und Uniformträgern ein erhöhtes Mass an Rechtstreue und unbedingte Disziplin im öffentlichen Auftritt erwartet. Selbst dann, wenn ein Notfall vorliegt.

 

Oberstes Bild: © Ben Carlson – Shutterstock.com

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