Tempo 140 – können Staus auf Nationalstrassen dadurch vermieden werden?
von Tobias Wolf
Der Druck auf die Politik wächst. Gleich zwei Volksbegehren auf einmal fordern eine Erhöhung des Tempolimits auf Schweizer Autobahnen. Während die Autopartei sich mit einem Tempolimit von 130 km/h zufriedengeben würde, fordert Initiant Marco Schäfer sogar 140 km/h. Unterstützung erfährt er dabei nicht nur vom SVP-Nationalrat Lukas Reiman sowie der Jungen SVP um Präsident Anian Liebrand, sondern seit Neuestem auch vom Automobil-Club der Schweiz (ACS).
Ein Provisorium mit Bestand
Der ACS stört sich vor allem an der Tatsache, dass sich das Provisorium aus den 80er-Jahren zu einem Dauerzustand entwickelt hat: Im Jahr 1977 wurde die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen vom Bundesrat auf 130 km/h begrenzt. Dies wäre laut ACS auch die Richtgeschwindigkeit, für welche die Ingenieure das Nationalstrassennetz der Schweiz konzipiert hätten. Im Jahr 1985 führte dann die Debatte um das Waldsterben zu einer weiteren Senkung auf 120 km/h. Diese Massnahme hätte auf drei Jahre beschränkt sein sollen, wurde dann allerdings auf unbegrenzte Zeit ausgedehnt. Dies solle nun geändert werden, so Zentralpräsident Mathias Ammann.
Laut dem ACS sei eine Tempoerhöhung zudem relativ einfach zu realisieren, da die Infrastruktur bereits auf höhere Geschwindigkeiten ausgelegt sei und daher keine spezifischen baulichen Massnahmen erforderlich wären. Der ACS ist sogar der Meinung, dass durch die technische Entwicklung der Fahrzeuge heute auch gefahrlos ein Tempolimit von über 130 km/h auf den Autobahnen möglich wäre.
Eine andere Position vertritt der Touring-Club Schweiz (TCS). Dort ist man der Meinung, dass die geltenden Tempolimits den Verkehr ausreichend flüssig halten würden. Zudem würde die bestehende Infrastruktur es nicht erlauben, höhere Geschwindigkeiten auch tatsächlich auszunutzen.
Eine Frage der Sicherheit
Auch Verkehrsexperten sind nicht davon überzeugt, dass auf den Nationalstrassen ein höheres Tempo gefahren werden könnte. Auf Schweizer Autobahnen gebe es viele Einmündungsbereiche und Kurven, die nicht einmal für ein Tempo von 120 konzipiert seien. Es stimme also in keinem Fall, dass flächendeckend alle geometrischen Elemente der Autobahnen auf eine Geschwindigkeit von 130 km/h ausgelegt wären, erklärt Andres Kaufmann, Geschäftsleiter der AKP Verkehrsingenieur AG. Er behauptet sogar, dass bei höheren Geschwindigkeiten die knapp bemessenen Strecken der Ausfahrten nicht zur Reduktion der Geschwindigkeit ausreichen würden.
Der Mediensprecher des Bundesamts für Strassen (Astra), Guido Bielmann, sieht die Infrastruktur dagegen als falschen Ansatzpunkt für eine Diskussion über das Tempolimit. Seiner Meinung nach seien heute der Verkehrsfluss und die Sicherheit die zentralen Aspekte bei der Festlegung von Geschwindigkeitsgrenzen. Durch die Verkehrszunahme der letzten Jahre sei man beim Astra gezwungen, die Tempobegrenzungen unter diesen Gesichtspunkten zu evaluieren. In diesem Zusammenhang hätten Studien gezeigt, dass man den Verkehr bei Staugefahr flüssig halten könne, wenn man die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h senken würde.
Wie hoch die Kosten für die Einführung eines flächendeckenden Tempolimits von 140 wären, kann beim Astra niemand beziffern. Sicher ist nur, dass bei einer Annahme der Initiative das gesamte Nationalstrassennetz auf die Kompatibilität mit der höheren Geschwindigkeit hin überprüft werden müsste. Auf nicht geeigneten Streckenabschnitten müsste die Höchstgeschwindigkeit dann entweder tiefer gehalten oder bauliche Veränderungen vorgenommen werden, so Kaufmann.
Ein flächendeckendes Tempolimit von 140 soll es laut ACS aber auch gar nicht geben. Es solle nur dort eingeführt werden, wo die Strassenverhältnisse es erlauben würden, sagt Ammann. Insbesondere auf grossen Teilen der A1 gebe es lange, gerade Streckenabschnitte, auf denen eine Geschwindigkeitserhöhung leicht umgesetzt werden könne – beispielsweise vom Aargau bis vor Bern, von Freiburg bis vor Lausanne oder von St. Gallen bis kurz vor Zürich.
Stauvermeidung durch Temposenkung
Für Thomas Sauter-Servaes, den Leiter des Studiengangs Verkehrssysteme an der ZHAW, ist die Diskussion um die Kapazitäten ohnehin nur zweitrangig. Im Mittelpunkt sollte seiner Meinung nach die Entscheidung stehen, welches Verkehrssystem die Schweizerinnen und Schweizer haben möchten: Sollen die Tempolimits erhöht und dadurch gegebenenfalls bauliche Massnahmen durchgeführt werden? Oder soll der Fokus lieber auf die Sicherheit und den Schutz der Umwelt gelegt werden? Beide Wege könnten nicht gleichzeitig beschritten werden, da sich die Optionen im direkten Gegensatz zueinander befänden, so Sauter-Servaes.
Um auch ohne Tempoerhöhung einen steten Fluss des Verkehrs zu gewährleisten, sollten nach einstimmiger Meinung der Experten dynamische Verkehrsleitsysteme eingesetzt werden. Auf diese Weise könnte in den Ballungszentren das Tempolimit bei Bedarf auf 80 km/h gesenkt und dadurch die Entstehung von Staus verhindert werden. Auch vonseiten des ACS erhält diese Lösung Zuspruch, was aber höhere Geschwindigkeiten prinzipiell nicht ausschliessen würde, sagt Ammann.
Für Sauter-Servaes ist dies allerdings nur ein Zwischenschritt. Er ist der Überzeugung, dass der Verkehr in Zukunft durch den vermehrten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien noch flüssiger gestaltet werden wird. Die Fahrzeuge würden dann praktisch automatisch fahren, indem sie nicht nur untereinander, sondern auch mit der Infrastruktur Daten austauschen. Auf diese Weise könnte das Tempo stets an die jeweilige Verkehrslage angepasst und Staus effektiv vermieden werden. Bis diese Vision allerdings Wirklichkeit wird, werden die beiden Volksbegehren längst an der Urne gewesen sein.
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