Suizidtourismus
von Tobias Wolf
Erstmals hat nun die Universität Zürich (UZH) eine detaillierte Studie veröffentlicht, die sich mit dem Thema des „Suizidtourismus“, wie das Phänomen von den Autoren bezeichnet wird, befasst. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass sich im Zeitraum von 2008 bis 2012 die Anzahl der Ausländer, die eine Sterbebegleitung in Anspruch genommen haben, zuerst verringert hat, dann aber von 2009 bis 2012 auf das Doppelte (172 Personen) angewachsen ist. Zum Vergleich: Bei Einheimischen gab es im selben Jahr 508 Fälle von Sterbehilfe.
Koautor der Studie Julian Mausbach vom Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich hatte diesen deutlichen Anstieg bereits vermutet. Schliesslich habe er an der UZH fast täglich mit Fällen von Sterbehilfe bei Ausländern zu tun. Insgesamt stammen die Suizidwilligen aus 31 Herkunftsländern, wobei die Mehrheit aus Deutschland und England kommt. Laut Mausbach ist die Schweiz ein Anziehungspunkt für Sterbewillige aus anderen Staaten, in denen eine restriktivere Gesetzeslage herrscht. In England finde die Redewendung „Going to Switzerland“ mittlerweile sogar schon als Umschreibung für assistierten Suizid Verwendung.
Als Grundlage der Studie diente vorrangig die Datenbank des Instituts für Rechtsmedizin der UZH. In dieser sind alle Fälle von assistiertem Suizid in der Stadt Zürich sowie in Pfäffikon ZH verzeichnet, die unter Beiwohnen eines Rechtsmediziners durchgeführt wurden. Dieses Vorgehen ist laut Mausbach im Kanton Zürich praktisch bei jeder Sterbebegleitung der Fall. Da die meisten Fälle von Sterbebegleitung mit Ausländern im Kanton Zürich durchgeführt werden, geht Mausbach zudem davon aus, dass sich der Trend auf die gesamte Schweiz bezieht.
Überwiegende Mehrheit der Fälle bei Dignitas
Im gesamten Untersuchungszeitraum fanden die Wissenschaftler 611 Personen in der Datenbank, die keinen Schweizer Wohnsitz besassen. Das Mittel der Wahl war bei fast allen Sterbewilligen das tödlich wirkende Medikament Natrium-Pentobarbital. Die Gründe der Sterbewilligen waren vielfältig und umfassten Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Lähmungen oder Parkinson (47 %). Viele Patienten litten auch unter Krebs (37 %) sowie rheumatischen oder anderen Erkrankungen. Mehr als ein Viertel der Betroffenen gab sogar mehrere Krankheiten als Grund für die Entscheidung zur Sterbehilfe an.
Auffällig sei zudem, dass Krankheiten im Endstadium bei ausländischen Sterbewilligen eher selten vorkämen. Wahrscheinlich seien diese Patienten, aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes, nicht mehr in der Lage, die Reise in die Schweiz anzutreten, so Mausbachs Vermutung.
In fast allen Fällen wurde die Sterbehilfe von der Organisation Dignitas durchgeführt, die überwiegend ausländische Sterbewillige begleitet. Nur in vier Fällen wurden die Patienten von Exit betreut. Somit entsprechen die Zahlen der Wissenschaftler von der Universität Zürich in grossen Teilen den Dignitas-Statistiken, welche bei der Organisation öffentlich zugänglich sind.
Laut den Statistiken von Dignitas entspricht die Zahl der Suizidbeihilfen heute in etwa der von 2006. In den beiden darauffolgenden Jahren kam es zu einem eindeutigen Einbruch, bevor die Zahlen ab 2009 wieder stiegen. Wahrscheinlich ist der Rückgang unter anderem darauf zurückzuführen, dass seit 2008 zwei Arztkonsultationen anstelle von nur einer von den Sterbewilligen verlangt werden.
Über die Gründe kann nur spekuliert werden
Als eine weitere Ursache für den Rückgang sehen die Autoren der Studie zudem die Berichterstattung über vier Fälle an, bei denen die ausländischen Betroffenen sich für einen Tod durch das Einatmen von Helium entschieden hatten. Diese Todesart beschrieben die Medien als qualvoll, wodurch die Diskussionen über diese Thematik weiter angeheizt worden sei, so Mausbach.
Allerdings hätten nicht nur Ereignisse in der Schweiz Einfluss auf die Anzahl der einreisenden Sterbewilligen, sondern auch Vorfälle in deren Herkunftsländern. So stieg die Zahl der Sterbewilligen aus Italien innerhalb des untersuchten Zeitraums um das Zehnfache an. Zu dieser rapiden Zunahme geführt haben könnte unter anderem die Debatte um die langjährige Komapatientin Eluana Englaro: In Italien wurde fieberhaft darüber diskutiert, ob man ihre lebenserhaltenden Geräte abstellen dürfe oder nicht.
Mausbach betont allerdings, dass es sich bei allen diesen Gründen zum Suizidtourismus lediglich um Spekulationen handelt. Er und seine Mitautoren vermuten aber, dass die Diskussion um eine Liberalisierung der Sterbehilfe in den restriktiveren Ländern in Zukunft neu entfacht werden wird. In den drei Ländern, aus denen die meisten Suizidtouristen stammen, scheint sich diese Annahme auch bereits zu bestätigen. Dort sind derzeit politische Bestrebungen im Gange, die zu einer Regelung des assistierten Suizids führen sollen.
Kritik an der Studie
Unmut über die Studie äussern vor allem die fünf Schweizer Selbstbestimmungs-Organisationen. In einer Stellungnahme kritisieren sie, dass die Pilotstudie wichtige Tatsachen und Hintergrundinformationen verschweige. Besonders der gewählte Zeitraum von 2008 bis 2012 zeichne ein verzerrtes Bild und suggeriere dadurch dramatische Resultate. Betrachte man stattdessen den Zeitraum von 2006 bis 2012, dann würden sich nur konstante Fallzahlen zeigen. Kritisiert wird zudem der Zynismus, dessen sich die Autoren der Studie bedienen, da sie die schwer leidenden Patienten ausnahmslos und ohne Anführungszeichen als „Suizidtouristen“ bezeichnen.
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