Moderne Psychoanalytik: Würde sich Sigmund Freud darüber freuen?

Am 23. September 1939 starb Sigmund Freud. Seinen 75. Todestag nehmen wir zum Anlass, die Erfolge der von ihm begründeten Psychoanalytik zu hinterfragen.

Sigmund Freud (geboren am 6. Mai 1856 in Tschechien, gestorben am 23. September 1939 in London) erlangte als Begründer der Psychoanalyse weltweite Berühmtheit. Er war einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts, bearbeitete und publizierte zu den Themen Neurologie und Tiefenpsychologie und galt als einflussreicher Kulturtheoretiker und Religionskritiker. Der brillante Psychoanalytiker lebte und wirkte überwiegend im von ihm geliebten und gleichzeitig gehassten Wien. Zahlreiche Gesellschaften und Schulen wurden nach ihm benannt, wie das Freud-Institut in Zürich. Das von der SGPsa* und der IPA* einzig anerkannte psychoanalytische Ausbildungszentrum der Schweiz unterhält seit 1956 Ausbildungsstätten in Basel, Bern, Genf, Lausanne, Lugano und Zürich.

Die klassische Psychoanalyse wird wieder belächelt und ihre Bedeutung klein gehalten, aber nicht von denen, die sie brauchen, sondern von denen, die sie bezahlen sollen. Eine gute Psychoanalyse benötigt als Therapie ihre Zeit, doch das moderne Schweizer Gesundheitssystem will schnelle Lösungen für wenig Geld. Dreimal die Woche zum Psychologen auf die Couch, über mehrere Jahre hinweg, das wollen viele Kassen nicht mehr bezahlen. In Wien, dem Ausbildungsort Sigmund Freuds, werden bereits seit zwei Jahren keine Neuanträge für hochfrequente Psychoanalysen mehr genehmigt, selbst die Zuschüsse wurden ersatzlos gestrichen. Wer sich psychisch krank fühlt oder unter Ängsten leidet, soll die zeitintensive Therapie selbst zahlen. Schliesslich gibt es ja noch schnell wirkende Psychopharmaka, die deutlich billiger sind.

Wohlfühltherapie auf Krankenschein?

So sehen es die Krankenkassen. Doch die Schweizerische Gesellschaft für Psychoanalyse hält dagegen. Während der Mensch in der Gesellschaft möglichst schnell wieder „funktionieren“ soll, geht es den Therapeuten um den Menschen an sich. Die Psychoanalyse verspricht nun mal keine schnellen Lösungen, und Erfolge sind erst sehr spät, wenn überhaupt, messbar. Doch lässt sich ein gesunder Geist überhaupt messen und ein kranker Geist erkennen, bevor eine wirklich ernsthafte psychische Erkrankung sich manifestiert? Freud hat es zumindest versucht – mit Gesprächen und Analysekonzepten. Jeder kennt die Begriffe Ödipuskomplex, Über-Ich oder Penisneid. Der freudsche Versprecher hat sich inzwischen tatsächlich nur als linguistischer Versprecher ohne sexuellen Hintergrund (wie von Freud vermutet) herausgestellt.

Inzwischen sind viele Theorien Sigmund Freuds umstritten und gelten als nicht belegbar. Die Zahl seiner Probanden war einfach zu gering, denn er arbeitete nur mit den Menschen, die entweder zufällig oder gezielt seine Praxis in der Wiener Berggasse aufsuchten, um sich von ihm behandeln zu lassen. Aus heutiger Sicht reichen Freuds Erkenntnisse für statistisch auswertbare Ergebnisse nicht aus, weil ein repräsentativer Bevölkerungsschnitt fehlt. Freuds Patienten sollen überwiegend der gehobenen Mittelschicht angehört haben; hierzu zählten Ehefrauen von Fabrikanten, Künstler und Bewunderer. Davon sind Freud-Kritiker wie Gerhard Stemmler, Psychologieprofessor aus Marburg, überzeugt, aber auch erklärte Freud-Fans wie der Hamburger Autor Thomas Köhler, der über „Das Werk Sigmund Freuds“ schrieb.



Irrte der Meister oder hatte er recht?

Sicher hat Freud sich in einigen Punkten seiner Lehren geirrt, möglicherweise kann man ihm sexuelle Fixierung vorwerfen. Seine Behauptungen zum „Penisneid“ haben ihm die Feministinnen bis heute nicht verziehen. Bewiesen ist, dass er Kokain zur Bewusstseinserweiterung konsumierte. Dennoch gilt er als Wegbereiter der modernen Psychoanalyse. Viele seiner Erkenntnisse sind nach wie vor gültig. Die von ihm favorisierte Gesprächstherapie zeigt gute Wirkung. Es gilt als erwiesen (und viele kennen es aus eigener Erfahrung), dass es für die Problembewältigung hilfreich ist, die Probleme beim Namen zu nennen, also darüber zu reden, bestenfalls mit einer fremden Person. Freuds „Lehre des Redens und Zuhörens“ ist Wegweiser für die Empathiefähigkeit jedes einzelnen Menschen, für das zwischenmenschliche Miteinander. In diesem Zusammenhang erforschte er auch die Bedeutung der Körpersprache.

Ebenso gilt das von Freud beschriebene Verdrängungskonzept des menschlichen Gedächtnisses als Schutzmechanismus als bewiesen, auch das Unterbewusstsein spielt in der heutigen Psychoanalyse wieder eine tragende Rolle. Dennoch sehen sich viele Psychologen heute als Verhaltenstherapeuten und nicht als Freudianer, denn sie wollen ohne langwierige Ursachenforschung Erfolge erzielen: als beratender Coach statt als Zuhörer an der Couch. Diesen Wandel nutzen moderne Traumdeuter-Telefonberater-Scharlatane diverser privater Fernsehsender aus und freuen sich über wachsenden Zuwachs: Zuhören gegen Bezahlung, unsinnige Ratschläge inklusive. Ob sich die Krankenkassen wirklich darüber freuen sollten, lesen diese vielleicht demnächst in den Sternen.

Apropos Lesen: Freud hätte den Nobelpreis verdient. Nicht für Medizin, sondern für Literatur, denn seine Fallstudien packte er in mitreissende Novellen, die seine zahlreiche Leserschaft weit über die fachlichen Kreise hinaus begeisterten. Zudem beendete er die sexuelle Sprachlosigkeit des 19. Jahrhunderts, indem er die Dinge beim Namen nannte. Sigmund Freud war ein brillanter Autor, seine Werke sind bis heute ein echter Lesegenuss.

 

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