DE | FR | IT

IV-Gutachten auf dem Prüfstand

06.10.2014 |  Von  |  Beitrag

[vc_row][vc_column][vc_column_text]Leidet die Angestellte tatsächlich unter Burn-out und kann deswegen nicht mehr arbeiten? Oder: Ist die Geschäftsfähigkeit des Partners in der Firma noch gegeben? Oft benötigen Gerichte, Pensionskassen oder Sozialversicherungen wie die IV ein Gutachten vom Psychiater, um Entscheidungen zu treffen.

Die Qualität der psychiatrischen IV-Gutachten steht allerdings häufig in der Kritik. Die neu eingerichtete Fachstelle für Gutachten an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) macht nun konkrete Vorschläge, wie die Aussagekraft der Gutachten in Zukunft verbessert werden kann.

In den letzten Jahren hat die Nachfrage nach psychiatrischen Gutachten stetig zugenommen. 10’000 psychiatrische Abklärungen gab im Jahr 2013 alleine die IV in Auftrag. An der PUK hat man auf diese immense Nachfrage reagiert und betreibt dort seit dem 1. Juli eine eigene Gutachten-Fachstelle für den zivilen und öffentlich-rechtlichen Bereich. Laut Klinikdirektor Erich Seifritz gab es Aufträge in dieser Richtung zwar schon immer, jetzt habe man sich aber dazu entschlossen, die Kompetenzen zu bündeln, um standardisierte Prozesse zu etablieren.

Über die reine Praxis hinaus soll an der PUK zudem ein neuer Forschungsbereich aufgebaut werden, der das Gutachtenwesen an sich näher untersuchen soll. Schliesslich seien die dahinterliegenden Prozesse bis heute kaum untersucht worden, und das, obwohl die Gesellschaft für Gutachten und Renten viel Geld ausgebe, erklärt Michael Liebrenz, Leiter der neuen Fachstelle.

Der neue Bereich soll beispielsweise klären, wie die wissenschaftlichen Ergebnisse am besten dem Rechtsanwender vermittelt werden können oder welche Auswirkungen Dolmetscher auf ein Gutachten haben. Zudem sollen Methoden erforscht werden, mit deren Hilfe alle Gutachter zu den gleichen Ergebnissen kommen. Laut Liebrenz sind diese grundlegenden Fragen in der Schweiz noch viel zu wenig eruiert worden.

Zeitmangel bei IV-Abklärungen

Seitdem die Fachstelle in Zürich ihren Dienst aufgenommen hat, hätten die Aufträge von IV-Stellen und Gerichten massiv zugenommen, berichten Liebrenz und Seifritz. Verwunderung herrscht bei den beiden Psychiatern allerdings darüber, wie wenig Zeit im Sozialversicherungsbereich für die Anfertigung von Gutachten zur Verfügung steht. Seifert berichtet, dass oftmals nur eine einzige Untersuchung durchgeführt werde, in der abgeklärt werden soll, ob jemand aus psychischen Gründen dauerhaft in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt ist. Gerade bei psychischen Leiden reiche diese Zeit aber bei Weitem nicht aus, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten. Hier müsse eine sogenannte Längsverlauf-Beurteilung durchgeführt werden, bei welcher der Patient und seine Symptome über längere Zeit beobachtet werden.

Obwohl Leitlinien für die Erstellung psychiatrischer Gutachten von der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie veröffentlicht werden, fänden sie bei vielen IV-Rentenverfahren kaum Berücksichtigung, berichten die beiden Psychiater. Bei den zuständigen Stellen wolle man auf diese Weise Zeit und Geld sparen. Laut Seifritz handelt es sich dabei allerdings um eine Milchmädchenrechnung, denn diese mangelhaften Gutachten würden im Endeffekt zu falschen Rentenbescheiden oder zu zusätzlichen zeit- und kostenaufwendigen Gutachten und Gegengutachten führen.

So verwundert es auch nicht, dass bei IV-Rentenbescheiden auf kantonaler Ebene jeder vierte Beschwerdefall für weitere Abklärungen vom Gericht zurückgewiesen wird. Allerdings kann beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) nicht gesagt werden, in wie vielen der zurückgewiesenen Fälle bereits ein Gutachten vorlag. Dass aber viele medizinische Abklärungen von schlechter Qualität sind, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2011. Damals wurden im Auftrag der Interessengemeinschaft Versicherungsmedizin Schweiz über 3000 Gutachten untersucht, von denen zwei Drittel psychiatrische Fragestellungen behandelten. Das Ergebnis: Über 30 % der Abklärungen waren mangelhaft.
[/vc_column_text][vc_separator color=“grey“][vc_column_text]

Untersuchungsmethoden Hirnscan. (Bild: Sergey Nivens / Shutterstock.com)

Untersuchungsmethoden Hirnscan. (Bild: Sergey Nivens / Shutterstock.com)

[/vc_column_text][vc_separator color=“grey“][vc_column_text]Mehr Zeit statt moderner Technik

Einigkeit besteht in Zürich darüber, dass es keiner neuartigen Untersuchungsmethoden wie Hirnscans oder Hirnstrommessungen bedarf, um bessere Gutachten zu erstellen. Wenn einfach genügend Zeit aufgewendet würde, um die vorhandenen Methoden anzuwenden, dann wäre das alles, was man benötigt. Liebranz und Seifritz ziehen hier einen Vergleich zur Forensik, bei der häufig viel mehr Zeit für eine Begutachtung zur Verfügung stehe. Sie räumen allerdings auch ein, dass die Frage, ob ein Mensch nach einer Straftat immer noch gefährlich für die Gesellschaft ist, sicherlich relevanter für die Bevölkerung sei als die Frage, ob für jemanden eine lebenslange Rente gezahlt werden soll. Trotzdem sei es für den Einzelnen persönlich und wirtschaftlich äusserst bedeutsam, ob sein Leiden von der Gesellschaft als Krankheit anerkannt wird oder nicht.

Beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) gibt man sich ob der Vorwürfe überrascht. Dass man für die Begutachtung der Patienten zu wenig Zeit aufwende, sei bisher nicht kritisiert worden, sagt Ralf Kocher, Leiter des Rechtsdienstes beim BSV und zuständig für die Zulassung der medizinischen Abklärungsstellen (Medas). Diese sind für die Klärung komplizierter, polydisziplinärer Fälle im Namen der IV verantwortlich. Allerdings stehen die Gutachten dieser Stellen öfters unter Verdacht, zu häufig im Sinne der IV auszufallen.

Eine Medas ist die neue Zürcher Gutachtenstelle nicht. Allerdings ist man beim BSV sehr am Know-how der dort arbeitenden Fachleute interessiert. Die Kapazitäten der bisherigen Medas-Stellen seien mehr als gedeckt und neue Gutachterstellen zu rekrutieren ein schwieriges Unterfangen, so Kocher. Gänzlich ausschliessen möchte Seifritz diese Möglichkeit nicht, aber momentan sei man an der Uniklinik nicht daran interessiert, eine Medas zu werden.

 

Oberstes Bild: © Michael Nivelet – Shutterstock.com[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]

[xcatlist name="beitrag" numberposts=24 thumbnail=yes]