Das Sorry-Syndrom oder weshalb fortwährende Rechtfertigung ein Erfolgskiller ist
von Agentur belmedia
Der Ausdruck „Sorry-Syndrom“ ist ein diagnostischer Begriff. Er beschreibt den konstanten und früher oder später pathologisch werdenden Zwang, sich für das eigene Verhalten zu entschuldigen. Natürlich muss diese Gewohnheit nicht zwangsläufig ins Krankhafte gehen. Doch im Job kann sie zu in der Regel schleichend auftretenden, jedoch erheblichen Nachteilen führen.
Oft sind es Frauen, die vom Rechtfertigungszwang betroffen sind. Vor allem gilt dies dann, wenn sie in Unternehmen mit hohem Anteil männlicher Mitarbeiter tätig sind. Ein weiterer Grund liegt in der weiblichen Sozialisation: Frauen sind nachweislich innerhalb von Systemen für die Wahrung der Harmonie verantwortlich und daher eher bereit, Schuld auf sich zu nehmen und um Verzeihung zu bitten.
Diese Angewohnheit kann bei Teammitgliedern, Vorgesetzten, Kunden beziehungsweise Geschäftspartnern einen Eindruck von Schwäche, Unsicherheit, Fragilität, mangelhafter Belastbarkeit, Unentschiedenheit und – paradoxerweise – unterdurchschnittlicher Sozialkompetenz aufkommen lassen, und zwar völlig unabhängig von der sonstigen Arbeitsleistung oder anderen persönlichen Eigenschaften. Die konstante Wiederholung schwächt die Wirkung der Entschuldigung darüber hinaus ab und wird dann nur noch als repetitives Verhalten, nicht aber als authentische emotionale Äusserung registriert.
Es gibt also jede Menge guter Gründe, sich das fortwährende Entschuldigen abzugewöhnen. Einfach ist eine solche Dekonditionierung jedoch nicht. Vor allem dann nicht, wenn das Rechtfertigen fest in der Biographie verankert und das „Um-Verzeihung-bitten“ zu einem Baustein persönlichen Wohlbefindens und gewohnheitsmässigen Verhaltens geworden ist. Im Folgenden eine Reihe von Tipps, wie Sie sich das reflexartige „Es tut mir leid“ auf Dauer abgewöhnen können.
1. Führen Sie über die Dauer von 14 Tagen eine Checkliste. Notieren Sie sich genau, wann und zu welchem Anlass Sie sich gegenüber wem, über welche Kommunikationsform und wie oft am Tag entschuldigt haben. Bringen Sie es auf mehr als fünfmal „Sorry“ täglich oder auf 100 Entschuldigungen in der Woche? Dann wird es Zeit, aktiv zu werden.
2. Überprüfen Sie Ihre Liste auf wiederkehrende Muster – zunächst rein statistisch, ohne jede Wertung. Sagen Sie häufiger in Gesprächen oder Mails und mobilen Textnachrichten „Sorry“? Wenn ja, eher gegenüber Vorgesetzten und Kunden oder schlichtweg zu jeder/m? Geht es dabei tatsächlich um Versäumnisse wie Verspätungen oder versäumte Aufgaben oder um subjektiv wahrnehmbare Anlässe wie beispielsweise eine nicht unausgewogene Work-Life-Balance und ein damit verbundenes schlechtes Gewissen? Hören Sie in sich hinein, warum das Bedürfnis sich zu entschuldigen gegenüber bestimmten Personen oder in bestimmten Situationen besonders ausgeprägt ist. Und gehen Sie diese beim nächsten Mal dann zielstrebig mit innerer Entschlossenheit an, nicht in den Rechtfertigungsmodus zu schalten.
3. Welche unmittelbare Reaktion haben Sie beim Überprüfen Ihrer Liste festgestellt? Wahrscheinlich erneut das Bedürfnis, sich zu entschuldigen – vor sich selbst! Meist entstammt das „Sorry-Syndrom“ einem tief verankerten Zweifel an den eigenen Fähigkeiten, der meist in keinem realen Zusammenhang zu Ihrer tatsächlichen Kompetenz steht. Tatsache ist sogar, dass Menschen mit ausgeprägtem Legitimationsbedürfnis meist überdurchschnittlich gut ausgebildet sind und auf ihrem Gebiet hervorragende Leistungen zeigen.
Im Umkehrschluss bedeutet das: Nicht Ihr Verhalten, für das Sie sich häufig und ständig völlig unnötig entschuldigen, müssen Sie ändern, sondern Ihre Selbstwahrnehmung. Beginnen Sie daher den Tag mit bewusst vorgenommenen Affirmation vor dem Spiegel und praktizieren Sie diese täglich so häufig, wie es sich gut anfühlt. Im Internet finden Sie eine Vielzahl entsprechender Anleitungen. Auch Stress vermindert übrigens das Selbstbewusstsein infolge hormoneller Unterdrückung von Botenstoffen. Eignen Sie sich daher Ihre ganz persönliche Antistresstherapie an – und seien es Wellnessstunden im eigenen Zuhause .
4. Unser Unterbewusstsein nimmt jeden unserer inneren Befehle entgegen und führt ihn aus , auch den selbstzerstörerischen! Dieser Mechanismus liegt dem Begriff der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“ zugrunde. Jede verbale Entschuldigung ist auch eine Selbstkonditionierung, den gleichen Fehler ständig zu wiederholen. Verlagern Sie daher Ihre Formulierung ins Positive. Sagen Sie beim nächsten Mal nicht: „Ich weiss, ich bin schon wieder zu spät. Bitte entschuldigt vielmals.“ Kombinieren Sie vielmehr den realen Grund mit einer optimistischen Prognose: „Die Bahn kam verspätet. Nächstes Mal nehme ich eine frühere.“ Der Effekt nach aussen hin ist der gleiche: Ihr Umfeld nimmt wahr, dass Sie nicht die Ursache einer Verspätung sein wollten. Für Sie selbst allerdings liegen Welten zwischen diesen beiden Aussagen. Mit der ersten verurteilen Sie sich zu einem Leben konstanter Verspätung; die zweite stellt den ersten Schritt zu einem Neubeginn dar.
5. Achten Sie darauf, ob nur Sie selbst in Ihrem Unternehmen dem „Sorry-Syndrom“ anheimgefallen sind. Zieht es sich vielleicht vielmehr durch eine bestimmte Abteilung oder ein abgegrenztes Projekt zieht? Tritt es etwa nur bei weiblichen Teammitgliedern auf? Dann könnte es sich auch um eine kontextbezogene Symptomatik handeln, entstanden durch einen schlechten Führungsstil Ihrer Vorgesetzten, ein schleichend aufgekommenes Angstklima (oft nach Entlassungen und Umstrukturierungen) oder eine mangelhafte Motivationskultur. Gewinnen Sie diesen Eindruck, dann sprechen Sie nach reflektierter Beobachtung den einen oder anderen Ihrer Kollegen an, denen Sie vertrauen und bei denen Sie die gleiche Verhaltensweise beobachten. Gemeinsam lässt sich mehr dagegen unternehmen!
6. Stellen Sie sich die ehrliche Frage, ob eine Mehrzahl Ihrer „Sorrys“ oder gar alle sich auf Ihre scheinbare Unfähigkeit beziehen, Unmögliches zu erreichen. Ein solches Phänomen tritt häufig bei Frauen auf, welche die Mutterrolle mit einer verantwortlichen Unternehmensposition vereinbaren müssen und ständig versuchen, diesem Drahtseilakt auch noch Leichtigkeit und Mühelosigkeit zu verleihen. Hören Sie auf damit, sich dafür zu entschuldigen, dass Sie keine Superheldin sind. Genauso gut könnten Sie dafür um Verzeihung bitten, kein Vogel, Biber oder Pferd zu sein.
Sie sind ein Mensch. Es genügt, dass Sie die ehrliche und oft erfolgreiche Anstrengung unternehmen, zwei Fulltimejobs in 24 Stunden gleich gut erledigen zu wollen. Hören Sie auf damit, einem nach menschlichen wie logischen Massstäben unmöglich zu erreichenden Ideal hinterherzulaufen. Dann verschwindet auch der Drang, sich für das „Versagen“ zu entschuldigen. Ersetzen Sie Entschuldigungen durch Erklärungen. Ihr Sohn wollte sich nicht ankleiden lassen? Na schön, dann sind Sie eben zehn Minuten später dran. Ein Unternehmen, in dem so etwas nicht akzeptiert wird, ist noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Dafür sollte sich dann eher die Firmenleitung bei Ihnen entschuldigen.
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