Kleine Lehrer für mehr Mitgefühl: Pilotprogramm mit Babys an Schweizer Schulen
von Andrea Durst
Kinder müssen heute schon früh viel leisten und sich mit anderen messen. Dabei bleibt das Einfühlungsvermögen für andere Menschen oft auf der Strecke.
Ein aus Kanada übernommenes Schulprogramm soll das jetzt auch in der Schweiz ändern: Babys bringen den Schülern bei, die Gefühle anderer wahrzunehmen und zu respektieren.
Hoher Leistungsdruck allein führt natürlich nicht zwangsläufig bei Kindern zu aggressivem Verhalten, Mobbing oder Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen. Wenn Eltern und näheres Umfeld soziales Verhalten vorleben und gut vermitteln können, stehen die Chancen gut, dass auch das Kind rücksichtsvoll mit anderen umgeht. Allerdings ist dies zum einen nicht immer der Fall, zum anderen werden an Kinder immer höhere Anforderungen gestellt, damit sie mithalten können. Manchmal mit den bekannten negativen Folgen: Auf Gefühle wird wenig Rücksicht genommen – weder auf die eigenen noch auf die der anderen. Die Bildung steigt, aber auf der emotionalen Ebene ist Nachhilfe angesagt.
Mit dem Programm „Roots of Empathy“ will nun auch die Schweiz dieser Entwicklung an Schulen entgegensteuern.
Säuglinge stehen im Mittelpunkt des Programms
Das Programm läuft als Pilotprojekt zunächst an vier Zürcher Primarschulen. Babys sind dabei die Hauptdarsteller und gleichzeitig ideale Lehrer, um Empathie zu vermitteln: Sie sind auf menschliche Fürsorge angewiesen, brauchen Schutz, Nahrung, Wärme und Zuwendung. Und sie können sich noch nicht durch Sprache mitteilen. Ihre Gefühle und Wünsche drücken sie dennoch klar und verständlich aus, man muss nur richtig zuhören und auf die Zeichen achten: Mimik, Körpersignale, Schreien, Weinen, Lachen.
Roots of Empathy ist ein langfristig angelegtes Programm. Ein ausgewähltes Baby besucht mit seiner Mutter bzw. seinem Vater ein Schuljahr lang die teilnehmende Schulklasse in regelmässigen Abständen, insgesamt neunmal. Zu Beginn des Projekts ist das Kind zwischen zwei und vier Monaten alt. So haben die Schüler Gelegenheit, die rasante Entwicklung eines Säuglings im ersten Lebensjahr zu beobachten und zu begleiten.
Die Eltern erzählen von ihrem Alltag mit dem Baby, das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht: Die Schüler beobachten das Kind, achten auf deutliche, aber auch leicht übersehbare Signale. Hat es Hunger? Muss seine Windel gewechselt werden? Ist es müde, fröhlich, satt, zufrieden oder ärgerlich? Dabei wechseln die Schüler automatisch ihre Sicht und versetzen sich in dieses schutzbedürftige Kind hinein, das darauf angewiesen ist, dass andere seine Bedürfnisse erkennen und erfüllen. Und sie stellen fest: So klein dieser Mensch noch ist, so ausgeprägt ist bereits seine Persönlichkeit und so nachdrücklich kann er seine Wünsche mitteilen.
Ausgebildete Trainer begleiten diese Stunden und unterstützen die Schüler dabei, alle Signale richtig zu deuten. Sie geben aber keine Anweisungen, sondern zeigen nur verschiedene Wege. Das Wissen erarbeiten sich die Schüler selbst, nur so prägen sich ihre Erfahrungen dauerhaft ein.
Auf jeden der neun Familienbesuche bereiten die Lehrkräfte ihre Schüler in einer separaten Schulstunde vor. Eine weitere Stunde bleibt jeweils für die Nachbesprechung reserviert, bei der die Schüler ein Feedback abgeben können. Indem die Kinder darüber sprechen, wie sie die Besuche erlebten und ob sich dadurch etwas an ihrer Sichtweise geändert hat, können sie auch ihre eigenen Emotionen besser wahrnehmen. Das ist ein zentraler Punkt des Programms: Denn nur wer sich in andere hineinversetzen kann, ist in der Lage, Mitgefühl zu entwickeln. Aus diesem Verständnis erwächst schliesslich ein Selbstverständnis: Wer die Gefühle anderer Menschen nachempfinden kann, nimmt Rücksicht und verletzt diese Gefühle nicht.
Eine geniale Idee aus Kanada
Roots of Empathy gibt es schon seit knapp 20 Jahren. Das Konzept wurde von der kanadischen Lehrerin Mary Gordon erarbeitet und umgesetzt. Mit grossem Erfolg: Verschiedene unabhängige Studien kamen zu dem Ergebnis, dass sich das Programm positiv auf die Klasse auswirkt. Schüler, die daran teilnahmen, zeigten mehr Mitgefühl und weniger aggressives oder verletzendes Verhalten als Kinder in den Vergleichsklassen. Auch die Bereitschaft zu teilen, den Mitschülern zu helfen, war wesentlich ausgeprägter. Die Schüler fühlten sich zudem von den anderen Kindern besser verstanden und akzeptiert, Ängste nahmen ab, die ganze Klasse war entspannter.
Sehr deutlich zeigt sich der Unterschied in punkto Aggression: Diese stieg in den Vergleichsklassen im Laufe des Schuljahres sogar an, während sie bei den in das Bildungsprogramm integrierten Klassen kontinuierlich abnahm.
Die Methode, die Perspektive zu wechseln, ist so einfach wie genial, da sich völlig neue Sichtweisen ergeben.
Bis heute haben rund 750’000 Schüler an diesem Programm teilgenommen, unter anderem aus den USA, Neuseeland und Deutschland.
Das Schweizer Programm wurde von Ashoka arrangiert, einer gemeinnützigen Organisation, die weltweit soziale Unternehmen unterstützt. Auch die UBS Optimus Foundation sowie die Pädagogische Hochschule Zürich zählen zu den Unterstützern des Projekts. Im Februar 2015 war Starttermin in der Schweiz. Schon im nächsten Jahr sollen weitere Schweizer Schulen an dem Kursprogramm teilnehmen.
Übrigens haben die Studien darüber hinaus gezeigt, dass Kinder mit sozialer und emotionaler Kompetenz generell bessere schulische Leistungen erbringen. Ein Grund dafür liegt sicher darin, dass sie sich in der Klasse wohler fühlen und eigene Ängste vor Mobbing und Aggression zurückgehen.
Roots of Empathy ist ein sinnvolles Programm, das einen wichtigen Beitrag dazu leistet, jungen Menschen emotionale Werte zu vermitteln. Nur schade, dass es kein vergleichbares Angebot für Erwachsene gibt.
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