Globale Auswirkungen der Öl-Niedrigpreise: Liquiditätsentzug in den Rohstoffländern
von Janine El-Saghir
Der Niedergang nicht nur des Erdöl-, sondern auch anderer Rohstoffpreise führt zu einem Liquiditätsentzug in globalem Ausmass. Einige Analysten befürchten, dass sich auf den Finanzmärkten aus diesem Grund neue Verwerfungen entwickeln könnten.
Der Verfall des Ölpreises seit Mitte letzten Jahres löst in den Industrieländern zwiespältige Gefühle aus. Viele Verbraucher dürften sich über sinkende Energiekosten freuen. Gleichzeitig drückt nicht zuletzt der niedrige Ölpreis die Inflationsraten gegen oder sogar unter null – die Befürchtung einer Deflation treibt derzeit europaweit die Notenbanken um.
Erst vor wenigen Tagen meldeten die USA, dass ihre Inflationsrate im März 2015 mit minus 0,1 Prozent wieder in den negativen Bereich gefallen ist – ohne den Einfluss des billigen Öls läge sie bei akzeptablen 1,7 Prozent. Energieexperten machen sich dagegen Sorgen, dass aus der gegenwärtigen Situation ein gewaltiger Investitionsstau resultiert, der im Verlauf der nächsten Dekade zu einer Preisexplosion für Erdöl und Erdgas führen könnte.
Preisverfall – der gesamte Rohstoffmarkt ist betroffen
Der Preisverfall für Rohstoffe auf dem Weltmarkt betrifft nicht nur die fossilen Energien, sondern ein breites Spektrum von Bodenschätzen, Agrarerzeugnissen und Rohprodukten. Der Rohstoffindex des Internationalen Währungsfonds (IWF) bildet die Preisentwicklung für Öl und Eisenerz ebenso ab wie für Kupfer und Bananen. Im Januar 2015 erreichte er seinen tiefsten Stand seit Mitte 2009. Zwar hat sich in den letzten Monaten ein leichter Aufwärtstrend gezeigt, trotzdem liegen die globalen Rohstoffpreise um über 40 Prozent unter dem Niveau vom Jahresbeginn 2011. Der Ölpreis ist hier nur die Spitze eines Eisbergs, an dem sich die potenziellen Folgen für die internationalen Märkte und die betroffenen Länder jedoch am besten illustrieren lassen.
Die ölexportierenden Länder führen Wirtschaftskrieg gegen die USA
In ihren Boom-Jahren standen den ölreichen Staaten Milliarden von US-Dollar als Reserven zur Verfügung. Die Investitionsfreude der „Herren des Öls“ war legendär, auf ihren Einkaufslisten standen unter anderem renditeträchtige Wertpapiere und Luxusimmobilien in den internationalen Metropolen. Seit dem Sommer 2014 hat sich der Preis pro Barrel Rohöl allerdings fast halbiert, derzeit liegt er bei etwa 55 US-Dollar. Angesichts der Tatsache, dass die Mitgliedsländer der Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) ihre Förderung nicht reduzieren, sondern die Märkte weiterhin mit billigem Erdöl fluten, könnte der Ölpreis in den kommenden Wochen und Monaten noch weiter fallen. Experten meinen inzwischen, dass die OPEC-Länder und insbesondere Saudi-Arabien inzwischen einen Wirtschaftskrieg gestartet hätten, der darauf abzielt, die Konkurrenz der USA auf dem Ölmarkt einzuschränken und eigene Marktanteile zu erhalten.
OPEC-Länder bald mit Liquiditätslücken
Allerdings zahlen die Erdölstaaten für diese Strategie mit ihren Liquiditätsreserven. Auch reiche Länder wie Saudi-Arabien bauen ihre akkumulierten Petro-Dollar rapide ab, andere Länder könnten in absehbarer Zeit mit Liquiditätslücken zu kämpfen haben. Venezuelas Staatshaushalt beruht zu 96 Prozent auf dem Ölgeschäft, das südamerikanische Land steht bereits seit Ende letzten Jahres kurz vor dem Staatsbankrott. Auch die stark von den Exporten fossiler Energien abhängige russische Volkswirtschaft leidet unter dem Preisverfall für Öl. Gleichzeitig könnte den internationalen Märkten durch diese Entwicklung eine wichtige Liquiditätsquelle verloren gehen.
Saudi-Arabien – der grösste Erdölproduzent der Welt – ist derzeit ein prominentes Beispiel für das Ausmass dieses Ausverkaufs. Die Devisenreserven der Ölmonarchie sind allein im Februar 2015 um 20,2 Milliarden US-Dollar gefallen, die saudische Zentralbank gab dazu an, dass dies der stärkste Einbruch seit mindestens 15 Jahren war. Auch das Abschmelzen der saudischen Devisenreserven auf dem Höhepunkt der Finanzkrise bleibt hinter der aktuellen Entwicklung weit zurück – Anfang 2009 hatte Saudi-Arabien aufgrund fallender Ölpreise ebenfalls in einem einzigen Monat 11,6 Milliarden US-Dollar seiner Devisenbestände verbrauchen müssen.
Viele Länder mit Rohstoffexporten betroffen
Der IWF und die nationalen Notenbanken weisen auch für andere Länder den Abbau ihrer monetären Reserven wegen sinkender Rohstoffpreise aus, betroffen sind neben den Erdölförderländern beispielsweise auch Chile als Kupfer- und Burkina Faso als Baumwoll-Produzent. Chile hat im vergangenen Februar Fremdwährungsreserven von 1,9 Milliarden US-Dollar abgebaut. Angola verzeichnete die grössten Abverkäufe von Reserven seit dem Beginn ihrer öffentlichen Dokumentation vor 20 Jahren. Algerien läuft Gefahr, in etwa 15 Monaten völlig ohne Devisenreserven dazustehen, wenn sich die Rohstoffpreise nicht erholen.
Die Rückbildung der Reserven erfolgt zudem deutlich schneller als in den Krisenjahren 2008 und 2009, die ebenfalls einen Einbruch der Rohstoffpreise mit sich brachten. Die USA schätzen beispielsweise, dass die OPEC-Länder im laufenden Jahr mit ihrem Öl nur noch 380 Milliarden US-Dollar verdienen werden – 2014 hatten ihre Öleinnahmen noch bei rund 730 Milliarden US-Dollar gelegen. Einen derartigen Preissturz innerhalb eines Jahres hat es in der Geschichte der Erdölförderung bisher noch nicht gegeben.
Wie stark beeinflussen Petrodollars internationale Märkte?
Analysten erwarten, dass die Ölstaaten in diesem Jahr Anlagevermögen im Umfang von mehr als 200 Milliarden US-Dollar verkaufen werden, um ihre Staatshaushalte zu finanzieren. An der Frage, welche Folgen diese Verkäufe für den globalen Finanzmarkt haben werden, scheiden sich die Geister. Ein Teil der Experten meint, dass die Devisenreserven aus Öl- und anderen Rohstoffgeschäften nicht genügend Gewicht besässen, um einen Einfluss auf die Märkte auszuüben. Auch die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) und anderer nationaler Notenbanken wirken aus ihrer Perspektive als ein Kompensationsmoment, das Auswirkungen dieser Verkäufe ausschaltet oder minimiert.
Andere Marktbeobachter und auch der IWF gehen davon aus, dass die Ölmilliarden durchaus die Fähigkeit zur Beeinflussung der Märkte haben, da hierdurch relevante Devisenströme ihre Richtung ändern. Prognosen sind hier jedoch auch aufgrund der mangelnden Transparenz nur schwer zu treffen. Viele erdölproduzierende Länder veröffentlichen, wenn überhaupt, nur in unregelmässigen Abständen Daten, einige von ihnen äussern sich grundsätzlich nicht zum Umfang ihrer Haushaltsreserven.
„Haushaltsschwelle“ = Mindestwert von 75 US-Dollar je Barrel Öl
Aus Sicht des IWF und der meisten Analysten wird der Ausverkauf der Devisenreserven rohstoffreicher Länder im Laufe dieses Jahres weitergehen – andere Alternativen haben die meisten der betroffenen Staaten nicht. Im Hinblick auf den Ölpreis schätzen die IWF-Experten, dass die Haushaltsschwelle erst wieder erreicht wird, wenn dieser bei 75 US-Dollar pro Barrel oder höher liegt. Einen nachhaltigen Ausweg aus der Rohstoff-Flaute würde wohl nur die strukturelle Entwicklung der heute überwiegend von Rohstoffexporten abhängigen Länder bieten.
Auf die strukturelle Entwicklung und die Investitionsfreiheit der Ölstaaten kommt es an
Welche hausgemachten Hürden dabei zu überwinden sind, illustriert Saudi-Arabien derzeit recht eindrucksvoll: In zehn Wochen will das Land seine Börse und damit den grössten Aktienumschlagpatz im Nahen Osten mit einem Handelsvolumen von derzeit 521 Milliarden US-Dollar für ausländische Investoren öffnen. Welche Regeln für diese künftig gelten sollen, ist jedoch noch völlig ungeklärt. Beispielsweise dürfen Ausländer bisher in vielen saudi-arabischen Branchen oder in Projekte in den beiden „heiligen Städten“ Mekka und Medina überhaupt nicht investieren, was auch Auswirkungen auf den Börsenhandel haben dürfte. Viele Saudis, darunter auch Vertreter des Königshauses, stehen auch einem wirtschaftlichen Engagement von Nicht-Muslimen in ihrem Land äusserst skeptisch gegenüber.
In welchem Masse Investitionsfreiheit die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes fördern kann, zeigen die Beispiele Indien und China, die ihre Märkte ab 2002 respektive 1992 schrittweise für ausländische Investoren geöffnet haben. Im Jahr vor der Öffnung lagen die Devisenreserven Indiens unter einer Milliarde US-Dollar, dem Subkontinent drohte der Zahlungsausfall – heute sind sie auf einen Betrag von über 330 Milliarden US-Dollar angewachsen. In den meisten Ölstaaten sind solche Schritte überfällig – strukturell befindet sich auch ein Land wie Saudi-Arabien bisher auf dem Status eines Entwicklungslandes.
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