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Proteste in Mazedonien – droht auf dem Balkan ein neuer Bürgerkrieg?

22.05.2015 |  Von  |  News

Am vergangenen Sonntag haben in der mazedonischen Hauptstadt Skopje etwa 20.000 Bürger gegen ihre Regierung demonstriert. Sie fordern den Rücktritt von Premierminister Nikola Gruevski und wollen Neuwahlen erzwingen. Auf dem Westbalkan droht ein neuer Bürgerkrieg und im schlimmsten Fall sogar ein Flächenbrand.

Mit den Demonstrationen in Skopje reiht sich Mazedonien in die Gruppe jener Länder ein, in denen zumindest ein Teil der Bürger ihre korrupten und autokratischen Regimes nicht mehr ertragen können. Die Protestierenden haben vor dem Regierungssitz ein Zeltlager errichtet, das sie erst räumen wollen, wenn Gruevski zurückgetreten ist. Dieser liess sein Staatsvolk und die internationale Öffentlichkeit allerdings bereits wissen, dass er nicht an Rücktritt denke und einen solchen vielmehr als „feigen Akt“ betrachte. Den USA warf Gruevski vor, durch ihre Unterstützung der Opposition den politischen Konflikt in Mazedonien zu schüren. Auch der Kreml hat sich zu den jüngsten Ereignissen auf dem Balkan bereits zu Wort gemeldet – bei einer „farbigen Revolution“ würden Mazedonien „ukrainische Verhältnisse“ drohen.

Grosses Gewaltpotenzial und offene Fragen 

Dass die Macht der mazedonischen Regierung bisher durchaus nicht gebrochen ist, zeigten am Montag Gegendemonstrationen, für die Gruevski immerhin rund 30.000 seiner Anhänger mobilisieren konnte. Bisher liefen sowohl die Proteste als auch die Gegendemonstrationen friedlich ab. Auch ethnische Spannungen wurden dabei nicht zum Thema. Welches Gewaltpotenzial in der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik tatsächlich existiert, wurde jedoch eine Woche früher deutlich. Am 9. Mai 2015 durchsuchten Polizeieinheiten und die mazedonische Armee ein mehrheitlich von Albanern bewohntes Viertel in der Stadt Kumanovo im Norden Mazedoniens. Ihr Ziel waren mutmassliche albanische Terroristen, die angeblich dabei wären, Anschläge zu planen. Viele der insgesamt 70.000 Einwohner Kumanovos erlebten an diesem und am nächsten Tag Zustände wie in einem Bürgerkrieg. Die bewaffneten Auseinandersetzungen dauerten insgesamt 13 Stunden, zu den Opfern zählten am Ende acht mazedonische Polizisten und 14 Kosovo-Albaner.

Fliessende Grenzen zwischen Staat und organisierter Kriminalität

Wie viele Menschen in Kumanovo tatsächlich starben, ist bis heute nicht geklärt. Als eine weitere Frage steht im Raum, ob es in der Stadt tatsächlich Terroristen gab oder ob die Regierung den Anti-Terror-Einsatz inszeniert hat, um die wachsende Unzufriedenheit der Mazedonier in eine andere Richtung umzulenken – viele Regimekritiker und auch einige internationale Beobachter halten dieses Szenario für möglich. Ebenso unklar ist, ob es zwischen der Gewalt in Kumanovo und den Massenprotesten in Skopje Verbindungslinien gibt oder ob es bei letzteren ausschliesslich um kriminelle Machenschaften der Regierung geht.

Sicher ist, dass die Staatskrise in Mazedonien mit den Kämpfen in Kumanovo und den Protesten in der Hauptstadt einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Unter Nikola Gruevski, der das Land seit 2006 regiert, ist Mazedonien in mafiöse und diktatorische Strukturen abgeglitten. Dusan Reljic, Balkan-Experte bei der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“, schreibt dazu, dass die Grenzen zwischen Staatsmacht und organisierter Kriminalität in Mazedonien ebenso wie den meisten anderen Ländern der Region fliessend sind. „Rechtsbruch und Kriminalität“ gehen seiner Einschätzung nach „direkt aus dem Staat hervor“.


Nikola Gruevski beim EPP Congress in Marseille im Jahr 2011.

Nikola Gruevski beim EPP Congress in Marseille im Jahr 2011. (Bild: European People’s Party – Flickr.com – CC BY 2.0)


Machtmissbrauch, Korruption, Bespitzelung – und keine integre Opposition

Die politischen Auseinandersetzungen in Mazedonien sind bereits seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im April 2014 dabei, zu eskalieren. Gruevskis Rechtsnationalisten erzielten eine Mehrheit, seitens der OSZE-Wahlbeobachter war allerdings auch von zahlreichen Unregelmässigkeiten die Rede. Die sozialdemokratische Opposition boykottiert seit den Wahlen die Arbeit des Parlaments in Skopje. Im Februar 2015 begann der sozialdemokratische Oppositionsführer Zoran Zaev damit, Mitschnitte von Telefonaten zu veröffentlichen, die deutlich machen, in welchem Masse die Regierung Gruevski ihre Macht missbraucht. Demnach wird die politische Elite des Landes – mindestens 20.000 Menschen – flächendeckend ausspioniert und abgehört. Auch Druckmassnahmen gegen Medienvertreter und Justizbeamte, illegale Bank- und Baugeschäfte sowie die explizite Verfolgung politischer Gegner gehören zu Zaevs trauriger Bilanz. Im Ruf der Integrität stehen allerdings auch der Oppositionsführer und seine Sozialdemokraten nicht – im Gegenteil gelten sie als kaum weniger korrupt als die mazedonische Regierung. Gruevski weist die Vorwürfe komplett zurück und betrachtet sie als Teil eines Komplotts der Opposition und ausländischer Mächte.

Vom Musterland auf dem Balkan zur mafiösen Diktatur

Ursprünglich galt Mazedonien unter den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien. Durch den Staatszerfall des Jahres 1991 war das Land als einzige der jugoslawischen Teilrepubliken ohne einen Bürgerkrieg gekommen. Zwar gab es im Jahr 2001 mehrmonatige bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der mazedonischen Armee und albanischen Milizen, die – unter Vermittlung der Europäischen Gemeinschaft durch das Ohrid-Abkommen jedoch beigelegt werden konnten. Mazedonien gehört seit 2005 zu den EU-Beitrittskandidaten und soll auch in die NATO aufgenommen werden. Beides wird jedoch bisher durch Griechenland blockiert, dass seinem nördlichen Nachbarn die Führung des Staatsnamens Mazedonien verbieten möchte. Viele Beobachter gehen davon aus, dass dieser – eher absurde – Streit mit Griechenland einer der Gründe dafür ist, dass in Mazedonien in immer stärkerem Masse diktatorisch-mafiöse Verhältnisse entstanden.

Südosteuropa und der Balkan brauchen Perspektiven in Europa

Balkan-Experte Reljic sieht die Probleme Mazedoniens in Prozesse eingebettet, die sich seit einigen Jahren in ganz Südosteuropa bemerkbar machen. Er spricht in diesem Kontext von einer „Orbánisierung der politischen Systeme“. Seit seinem Wahlsieg im Jahr 2010 machte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán eine rechtsnationalistische Politik nicht nur in seinem Land, sondern in der gesamten Region gesellschaftsfähig. Die Resultate bestehen in wirtschaftlicher Stagnation, immer heftigeren Verteilungskämpfen um staatliche Ressourcen und manifestem Demokratie-Verlust. Hinzu komme, dass die Europäische Union inzwischen „erweiterungsmüde“ sei. Reljic hält demgegenüber ein starkes europäisches Engagement auf dem Westbalkan sowie den Kampf gegen Armut und Perspektivlosigkeit für unverzichtbar. Wenn die europäische Perspektive für die Balkanländer wegbricht, würden dieses Vakuum auch auf internationaler Ebene antidemokratische Kräfte wie Russland, die Türkei sowie islamistische Bewegungen füllen.



Drohen in Mazedonien ethnische Konflikte?

Falls die Konflikte in Mazedonien anhalten, werden Regierung und Opposition in absehbarer Zeit sehr wahrscheinlich auch die ethnische Karte spielen – die Kämpfe in Kumanovo haben einen Vorgeschmack darauf gegeben. Wer in Skopje unterwegs ist, erlebt unter anderem eine geteilte Stadt, in der es zwischen slawischen und albanischen Stadtvierteln nur wenige Berührungspunkte gibt. Rund 64 Prozent der Einwohner sind slawische Mazedonier, die albanische Minderheit macht etwa ein Viertel der Zwei-Millionen-Bevölkerung des Landes aus. Die Vereinbarungen des Ohrid-Abkommens sollten unter anderem ihre Minderheitenrechte stärken – vollständig umgesetzt wurden sie jedoch bis heute nicht. Ethnisch motivierte Auseinandersetzungen und rassistisch motivierte Übergriffe stehen in Mazedonien immer wieder auf der Tagesordnung. Zu den ärmsten Bevölkerungsschichten gehören neben den Roma auch viele ethnische Albaner. Die Regierung in Skopje befürchtet, dass sie sich mit dem Kosovo und der Republik Albanien zu einem Gross-Albanien zusammenschliessen könnten.

Mazedonien spielt für die Schweiz nur eine marginale Rolle

Für die Schweiz spielen die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Mazedonien nur eine untergeordnete Rolle. Die „Republik Mazedonien“ hat sie – entgegen dem griechischen Verdikt – ebenso wie 130 weitere Staaten anerkannt. Die Beziehungen fokussieren sich jedoch auf Fragen der Entwicklungszusammenarbeit sowie Belange der relativ grossen mazedonischen Einwanderergemeinde in der Schweiz. Der Handels- und Wirtschaftsaustausch zwischen beiden Ländern hält sich laut Angaben des Eidgenössischen Departments für auswärtige Angelegenheiten dagegen in recht engen Grenzen.

Trotzdem könnte Mazedonien zu einem neuen Krisenherd direkt vor Europas Haustür werden. Fraglich ist, ob sich eine Eskalation der Konflikte auf das Land beschränken würde oder sich in Teilen des Westbalkans ein neuer Flächenbrand entwickelt, der unter anderem die gegenwärtige Flüchtlingskrise noch einmal verschärfen würde. Eine Einigung der Konfliktpartien ist nicht in Sicht. Ebenso beunruhigend ist, dass das Land zum Katalysator weiterer Interessenkonflikte zwischen Russland und dem Westen werden könnte.

 

Oberstes Bild: © Nikola Spasenoski – shutterstock.com