Last-Minute-Einigung mit Griechenland – eine verpasste Chance für die EU?
von Janine El-Saghir
Das Schulden-Poker um Griechenland befindet sich in seiner – angeblich – allerletzten Runde. Am Montag hat der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in Brüssel neue Reformvorschläge vorgelegt, über die die Gremien der Euroländer jetzt im Eiltempo befinden müssen.
Seine Zugeständnisse an die EU – im Klartext: neue massive Sparprogramme – bringen Tsipras innenpolitisch unter Druck. Der Kompromiss mit den Eurostaaten könnte durchaus das Scheitern der Syriza-Regierung nach sich ziehen. Mehr als elf Abgeordnete, die ihre Zustimmung verweigern, kann sich Syriza nicht leisten.
An den Finanzmärkten scheint die Griechenland-bedingte Depression dagegen schon vorbei zu sein, die internationalen Aktien-Indizes – darunter auch der Swiss Market Index (SMI) – haben sich angesichts der Aussicht auf eine Einigung recht schnell erholt. Überraschungen in puncto „Grexit“ könnte es allerdings zu jedem Zeitpunkt geben. Absehbar ist, dass sich die Griechen UND Europa trotz des nicht auszuschliessenden Verhandlungserfolgs auf der Verliererseite wiederfinden werden.
„Paperology“ zwischen Athen und Brüssel – am Ende doch mit einem Lösungsansatz?
In Brüssel trafen sich am Montag zunächst die Finanzminister der Euroländer und danach auch ihre Staats- und Regierungschefs zu einem weiteren Krisengipfel in Sachen Griechenland. Bereits zuvor war von neuen Reformvorschlägen aus Athen die Rede, die Tsipras am vergangenen Sonntag an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und den französischen Staatspräsidenten Francois Hollande gegeben habe. In der EU-Kommission ist im Hinblick auf den Schriftwechsel zwischen Athen und Brüssel inzwischen von „Paperology“ die Rede. Ob das aktuelle Dossier tatsächlich ein Lösungsansatz ist, entscheidet sich vermutlich am Mittwoch dieser Woche auf einem weiteren Krisengipfel.
Zwölf Seiten Reformvorschläge aus Athen
Das von Tsipras eingereichte neue Papier umfasst insgesamt zwölf Seiten. Die neuen Sparmassnahmen und Reformen sollen in den nächsten eineinhalb Jahren rund fünf Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen. Sie umfassen unter anderem eine Erhöhung der Mehrwertsteuer im Tourismussektor und in einigen anderen Bereichen, höhere Beiträge zur Sozialversicherung, eine generelle Anhebung der Unternehmenssteuern sowie eine Sonderabgabe für Firmen, die im Jahr mehr als 500’000 Euro Gewinn erzielen. Für Luxusprodukte und Online-Glücksspiele soll es künftig Sondersteuern geben. Besserverdienende mit einem Jahreseinkommen über 50’000 Euro müssen höhere „Solidaritätsabgaben“ zahlen.
Auch im Hinblick auf eine Reform des Rentensystems kommt Griechenland seinen Gläubigern mit dem anvisierten Abbau von Frühverrentungen und dem Kürzen bestimmter Zusatzrenten weit entgegen. Die Rüstungsausgaben sollen gekürzt und Privatisierungen vorangetrieben werden. Der Primärüberschuss respektive der Saldo des öffentlichen Haushalts ohne Schuldendienst soll in diesem Jahr bei 1 und 2016 bei 2 % der Wirtschaftsleistung liegen.
Als Gegenleistungen erwartet Griechenland die Freigabe der letzten 7,2 Milliarden Euro aus dem aktuellen Hilfspaket und perspektivisch ein Programm, das auch Schuldenerleichterungen einschliesst. Die Zustimmung zu diesem Vorschlag ist weder in Brüssel noch Athen gesichert. Die „Institutionen“ sowie die Euroländer dürften allerdings eher auf den Kompromiss als auf den „Grexit“ setzen, der ohne eine Lösung zum Monatsende so gut wie unabwendbar ist.
Bluten werden die „normalen Bürger“
Eine offene Frage ist, ob und inwieweit dieser Kompromiss den Griechen hilft. Aus der europäischen Perspektive geht es für Athen auf absehbare Zeit ausschliesslich ums Sparen – und zwar um so gut wie jeden Preis. Das anvisierte Wirtschaftswachstum bleibt bis auf Weiteres eine theoretische Grösse. Die griechische Oberschicht dürfte Mittel und Wege finden, ihr Vermögen auch über die nächste Sparrunde zu retten.
Bluten werden dagegen die „normalen Bürger“. Seit 2009 sind das griechische Bruttoinlandsprodukt um 27 % und die Löhne um 30 % eingebrochen. Etwa ein Viertel der erwerbsfähigen Griechen ist auf Dauer arbeitslos. Das – allerdings insgesamt marode – Rentensystem leidet nicht primär unter Frühverrentungen und zu hohen Renten, sondern unter der Tatsache, dass die Einzahlungen in die Rentenkassen immer stärker schrumpfen. Zudem gibt es in Griechenland bis auf ein Arbeitslosengeld, dessen Zahlung auf maximal ein Jahr befristet ist, praktisch kein Sozialsystem – angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt sind die Renten der Grosseltern in vielen Familien bereits seit Jahren das einzige verfügbare Einkommen, von dem auch die Kinder und Enkelkinder leben müssen. Durch Privatisierungen und die neuen Unternehmenssteuern dürften weitere Arbeitsplätze verloren gehen. Dieselben Szenarien würden in einem beliebigen Land in Westeuropa zu massiven politischen Verwerfungen und „Erdrutsch-Wahlen“ führen.
Die „Rettung Griechenlands“ ist zum neoliberalen Projekt verkommen
Über eine nachhaltige Sanierung Griechenlands macht sich dagegen zumindest in den offiziellen Gremien kaum jemand Gedanken. Die wirtschaftlichen Defizite des Landes werden auch ein drittes oder viertes Rettungspaket nicht lösen. Sofern Griechenland in der Eurozone bleibt, braucht es einen Schuldenschnitt und umfassende strukturelle Hilfen. Anhand seiner Wirtschaftsdaten hätte Griechenland nie Mitglied der Eurozone werden dürfen. Vor diesem Hintergrund betreiben sowohl die Eurostaaten als auch die „Institutionen“ (Europäische Zentralbank, EU-Kommission und IWF) reine Interessenpolitik, um die ohnehin eher durchwachsene ökonomische Prosperität der Eurozone nicht zu gefährden. Hinzu kommen die Sicherung von Anlegerinteressen an den Börsen sowie Befürchtungen, dass ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone weitere Sezessionstendenzen nach sich ziehen würde.
Die „Rettung Griechenlands“ ist in ihrem Kern zu einem neoliberalen Projekt verkommen. Die Syriza-Regierung wurde seit ihrem Wahlsieg immer wieder dafür abgestraft, dass sie zumindest bis zum vergangenen Wochenende diesen Kurs infrage stellte. Die produktive Alternative zum „Grexit“ ist nicht das nächste Hilfspaket, sondern ausschliesslich ein Schuldenschnitt. Dass die Gläubiger in beiden Fällen auf ihr Geld verzichten müssten, ist kein Gegenargument. Objektiv gesehen trägt jeder andere Kompromiss allenfalls bis zur nächsten offenen Krise und treibt Griechenland immer tiefer in die Schuldenfalle.
Welchen innenpolitischen Handlungsspielraum hat die Syriza-Regierung?
Ob die Syriza-Regierung über genügend wirtschaftlichen Sachverstand – und über genügend Macht gegenüber der griechischen Oligarchie – verfügt, um wirtschaftliche Reformen einzuleiten, steht auf einem anderen Blatt. Überfällig wären sie sowohl innerhalb des bestehenden Systems als auch bei einem „Grexit“. Fakt ist jedoch – und darauf wollte Syriza mit seiner bisherigen Verweigerung von Zugeständnissen hinaus –, dass sich das Land ohne massive Investitionen nicht einmal ansatzweise erholen kann und wird. Mit dem Austritt aus der Währungsunion und der Wiedereinführung einer abgewerteten Drachme könnte sich Griechenland dagegen zumindest in einigen wirtschaftlichen Sektoren Wettbewerbsvorteile verschaffen. Dass 70 % der Griechen sich den Verbleib ihres Landes in der Eurozone wünschen, fällt als Argument dagegen zwar durchaus ins Gewicht. Aber: Auch in der Sichtweise von Costas Lapavitsas, dem Wortführer des linken Flügels der Syriza-Partei, steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit. Aus seiner Perspektive werden die öffentliche Meinung und die Medien des Landes vor allem von „in jeder Hinsicht bankrotten“ Eliten kontrolliert, die keine politischen, wirtschaftlichen oder ethischen Zukunftsvisionen für die Griechen hätten.
In den nächsten Tagen wird es allerdings weniger um Zukunftsvisionen, sondern um die Frage gehen, welchen innenpolitischen Spielraum die Syriza-Regierung tatsächlich hat – und zwar in die eine oder andere Richtung. Falls Tsipras bei der Abstimmung über seinen Reformvorschlag verliert, dürfte dies das Ende des Syriza-Projekts bedeuten. Spannend wäre in diesem Fall, wie sich die Verhandlungen mit Brüssel und der von dort vorgegebene Zeitrahmen dann gestalten würden. Ebenso dürfte der „Grexit“ in Griechenland nicht unumstritten bleiben.
Steht die Europäische Union an einem Scheideweg?
Für die Europäische Union könnte sich die griechische Schuldenkrise dagegen als ein Symptom erweisen, dessen tatsächliche Tragweite ihre Politiker bisher nicht erkennen wollen. In einem Interview mit dem Fernsehsender ARTE nennt der Wirtschaftswissenschaftler und frühere Chefökonom der UNCTAD (UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung), Professor Heiner Flassbeck, einige zentrale Punkte: Demnach haben in den vergangenen Jahren nicht nur Griechenland, sondern auch andere Euroländer massiv an Wirtschaftskraft verloren. Frankreich und Italien sind die nächsten Kandidaten für eine neue schwere Krise. In beiden Ländern stehen Wahlen an, die aufgrund der wirtschaftlichen Probleme zu einem krassen – und antieuropäischen – Rechtsruck führen könnten.
Für eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung in der gesamten Eurozone sieht Flassbeck vor allem Deutschland in der Pflicht, das in den kommenden Jahren auf sein massives Lohndumping und damit einen gravierenden Wettbewerbsvorteil verzichten müsste. Die Alternative ist aus seiner Sicht der wirtschaftliche Zerfall der Eurozone. Der Schuldenstreit um Griechenland erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als „Stellvertreter-Kampf“.
Als ein vorläufiges Fazit: Möglicherweise stehen in diesen Tagen nicht nur die Griechen – übrigens mit und ohne Syriza –, sondern auch die Europäische Union als Ganzes an einem Scheideweg und die Perspektiven des Vereinigten Europas auf dem Prüfstand. Die europäischen Alternativen laufen in diesem Fall auf echte und ehrliche Integration oder eine Weiterführung der bisherigen Interessenpolitik hinaus. Dass die EU-Gremien diesen Punkt erkennen oder erkennen wollen, ist allerdings bis auf Weiteres mehr als unwahrscheinlich. Die anvisierte Last-Minute-Lösung für Griechenland ist in dieser Dimension nicht zuletzt eine verpasste Chance.
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