Basel-Stadt BS: Alle Gerichtsentscheide in Basel-Stadt ab 01.07.2016 anfechtbar

Basels Gerichte stehen vor einem Dilemma – sie scheinen es jedoch noch zu ignorieren. Die Ernennung der Richter sowohl des Strafgerichts als auch des Appellationsgerichts sind nämlich alles andere als transparent. Damit verstossen sie unter anderem auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

Als Konsequenz sind daher sämtliche Gerichtsentscheide in Basel-Stadt seit dem 1. Juli 2016 anfechtbar. Wie es genau dazu kam, schildert der folgende Artikel, der am 3. April 2017 bereits als Essay in der angesehenen rechtswissenschaftlichen Internetpublikation Jusletter veröffentlicht worden ist.

Der Kanton Basel-Stadt hat seit 01.07.2016 ein neues Gerichtsorganisationsgesetz (GOG). Dieses ersetzte das Gerichtsorganisationsgesetz von 1895. Damit wurde eine überfällige Anpassung an die Anforderungen eines modernen Rechtsstaates realisiert.

Immerhin ist die Schweiz seit 1959 Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention, womit eine Anpassung der rechtsstaatlichen Ansprüche für die Bürger überfällig war. Mit erheblicher Verspätung werden nun diese Vorgaben angepasst, aber nur unvollständig.

Zu kleine Gerichtskreise

Kritik an den Gerichten ist problematisch. Prädestiniert sind dazu die Rechtsanwälte, da es ihr Beruf ist, professionell vor Gericht aufzutreten. Nichtsdestotrotz ist dies für Advokaten berufsschädigend, steht doch der gleiche Anwalt in kurzer Zeit wieder vor dem gleichen Richter. Da steht es fern, sich mit richterlicher Kritik unbeliebt zu machen.

Die kantonalen Gerichtskreise sind zu klein, als dass der anonyme unabhängige Richter zum Tragen kommt. Man kennt sich, man sieht sich, man möchte gerne einvernehmlich miteinander beruflich leben; da verträgt sich Kritik nicht.

Demgegenüber sind die Gerichtskreise in anderen Ländern deutlich grösser und die Wahrscheinlichkeit, einem Richter wieder zu begegnen, ist eine Vielzahl kleiner, weshalb auch Kritik an Richtern und dem Gerichtsrecht möglich ist. Der Korpus eines kantonalen Gerichtskreises umfasst ca. 30 – 50 Richter, im Ausland sind es etwa 3 – 10 Mal mehr.

In der Schweiz wird deshalb kaum richterliches Handeln gerügt, zulasten zahlreicher Betroffener. Im Ausland werden Ausstandsgesuche zahlreich eingereicht und können auch Element einer Prozessstrategie sein (RAF-Prozesse). Solche Gesuche werden in der Schweiz nur in Ausnahmefällen abgegeben und von den Richtern bereits als Persönlichkeitsverletzung qualifiziert.

Es sollte in der Schweiz einen Gerichtskreis „deutsche Schweiz“ und einen Gerichtskreis „frankophone Schweiz“ geben. Dies würde den Anspruch auf einen unabhängigen Richter deutlich erhöhen.

Besetzung der Spruchkörper

Die Gerichte haben dem gesetzlichen Befehl zu folgen und Ausführungsbestimmungen zum GOG zu erlassen. Nach § 9 Abs. 2 Ziff 5-7 und nach § 32 sind die Spruchkörper wie folgt zu benennen:

4 Die Gerichte organisieren die Spruchkörper im Übrigen nach Bedarf; Einzelheiten regeln die Reglements der Gerichte.

Vor kurzem wurde beim Appellationsgericht und beim Strafgericht um Auskunft gebeten, wie die Zuteilung der Verfahrensleitung und der Spruchkörper geregelt ist. Offenbar gibt es kein Reglement für diese Gerichte, Stand März 2017, 9 Monate nach in Kraft treten des Gesetzes.

Es ist wohl nur als Anmerkung anzufügen, dass sämtliche Ernennungen der Spruchkörper des Appellationsgerichts und des Strafgerichts im Jahre 2016 bis heute gesetzeswidrig waren.

Voraussetzungen für Gericht und Richter
Daraus müssen die von der EMRK geforderten Grundsätze der Richterzuteilung im Gerichtsreglement Berücksichtigung finden.

Der Report 2014 des European Network of the Councils for the Judiciary (ENCJ) proklamiert als internationales Richterstandardwerk 11 Standards:

  1. Zuteilung der Gerichtsfälle konform zu Art. 6 EMRK
  2. Öffentliche Bekanntmachung der Zuteilungskriterien
  3. Faire Zuteilung
  4. Etablierte Methode der Richterzuteilung
  5. Objektive Zuteilungsmethoden
  6. Berücksichtigung der Komplexität des Falles in der Zuteilung
  7. Reglementiertes Zulassungsverfahren
  8. Senioritätsprinzip
  9. Begründungspflicht der Richterzuteilung
  10. Begründung der Zusammensetzung des Spruchkörpers
  11. Information an die beteiligten Parteien über die Richterliche Zusammensetzung

Das Strafgericht und das Appellationsgericht erfüllen zurzeit maximal 2 – 3 dieser Voraussetzungen. Das gleiche gilt für die Gerichtsverteilungspläne des Strafgerichts (bzw. für die nicht existierenden Gerichtsreglements dieser Gerichte). Die vorgesehene Richterzuteilung durch einen Präsidenten oder einen Kanzleivorsteher ist da auch ungenügend.

Die Richter möchten sich nicht in die Karten schauen lassen

Ein begründeter und dokumentierter Richterzustellungsentscheid wird in der Schweiz nicht praktiziert, im Gegensatz zu zahlreichen andern Ländern. Dabei ist die Praxis zur Dokumentationspflicht klar:

BGE 6B_721/2011: 8.4 Es gehört zu den elementaren Grundsätzen des Strafprozessrechts, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen aktenkundig gemacht werden. (…) Im Strafverfahren besteht deshalb eine Aktenführungs- bzw. Dokumentationspflicht. Demnach müssen alle prozessual relevanten Vorgänge von den Behörden in geeigneter Form festgehalten und die entsprechenden Aufzeichnungen in die Strafakten integriert werden.

Wie die Gerichte ihre  Richter in den Spruchkörper bestimmen, wird  nicht dokumentiert. Dies betrifft alle Gerichte. § 77 der StPO bestimmt zudem, dass alle wichtigen Verfahrenshandlungen protokolliert werden müssen. Die Bestellung eines Gerichts ist eine wichtige Verfahrenshandlung, wird aber nie protokolliert.

Die Konsultation des Standardwerks „Grundrechte in der Schweiz“ von Paul Müller und Markus Schefer (Stämpfli Verlag Bern 2008) führt zu zwei wegweisenden Entscheiden:

BGE 117 Ia 157 und 125 V 499. Kerngehalt: Ist die Zusammensetzung des Spruchkörpers gesetzlich geregelt, so verstösst die Abweichung der Zusammensetzung des Spruchkörpers gegenüber der gesetzlichen Regelung gegen den verfassungsrechtlichen Anspruch auf ordentliche Besetzung des Gerichts (Seite 936 a.a.O.).

Anfechtbarkeit

BGE 117 Ia 157

„4. a) Demnach ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Zwischenentscheid aufzuheben. Damit wird dem Sachurteil des Wirtschaftsstrafgerichts des Kantons Bern vom 5. Juli 1990 die Grundlage entzogen, weil das Gericht in einer gegen Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verstossenden Zusammensetzung entschieden hat.“

Aktuelle Gerichtsverfahren: Die Spruchkörper des Appellationsgerichts sind nicht zusammengesetzt basierend auf dem gesetzlichen Befehl eines Reglements zur Bestimmung des Spruchkörpers, womit der Anspruch auf einen gesetzeskonform zusammengestellten Spruchkörper verletzt ist. Das gleiche gilt für das Strafgericht.

Das Basel-Stadt GOG bestimmt:

1.5.9. Entscheidfähigkeit

§ 33. Abs. 1 Ein Spruchkörper ist entscheidfähig, wenn er nach den Vorschriften dieses Gesetzes besetzt ist.

Mangels Reglement sind die Spruchkörper nicht nach den Vorschriften dieses Gesetzes besetzt und damit kraft Gesetz nicht entscheidungsfähig.

Wahlkriterien der Zuteilung der Richter im Spruchkörper: BGE 1B_291/2015, 1B_301/2015. Bei der Beurteilung eines Ausstandsgesuches betreffend Richter G. hat das Bundesgericht in den Erwägungen ausgeführt:

„Nach der Rechtsprechung sind die gerichtsinterne Fallzuteilung und Spruchkörperbildung im Einzelfall nach objektiven Kriterien vorzunehmen, soweit das massgebende Verfahrensrecht – wie im Kanton Basel-Stadt – keine einschlägigen Regelungen enthält (vgl. Gerold Steinmann, St. Galler Kommentar BV, 3. Aufl. 2014, Art. 30 N. 13).“

Dabei hat das Bundesgericht die unprotokollierte, unmotivierte und unbegründete Richterzuteilung gutgeheissen. Damit hat das Bundesgericht entschieden, dass keine dokumentierten Kriterien dem Gebot der objektiven Kriterien genügen. Das ist nicht das erste Mal, dass sich eine „schöne“ Urteilsbegründung und effektiver Sachverhalt widersprechen.

Ein Protokoll zu dieser richterlichen Ernennung existiert nicht, entgegen der Protokollierungspflicht gemäss § 77 StPO. Objektive Gründe für eine Fallzuteilung sind nicht ersichtlich und können auch nicht erkannt werden. Die Überprüfbarkeit der Bestellung eines Spruchkörpers ist damit unmöglich.

Wie das zukünftige Reglement zur Bestimmung der Spruchkörper aussehen wird, ist offen. Eine Bestimmung, wonach die erste Gerichtsschreiberin den Spruchkörper bildet, ist EMRK-widrig, da damit objektive Gründe vom zu verabschiedenden Reglement nicht verlangt werden.

Ebenso untauglich ist oder wäre eine retrospektive Übergangsbestimmung mit dem Ziel, richterliche Ernennungen ab 01.07.2016 bis zum Inkrafttreten des Reglements zu naturalisieren, da nicht rückwirkend eine Richterzuteilung legalisiert werden kann.

Damit verweigern das Appellationsgericht und das Strafgericht zurzeit den Anspruch auf einen unabhängigen, unbefangenen und unparteiischen Richter ohne Einwirkung sachfremder Umstände. Das Problem ist, dass auch das Bundesgericht kein Reglement zur Bildung der Spruchkörper hat.

Was hier für das Appellationsgericht und das Strafgericht gilt, trifft auch auf die übrigen Gerichte, wie Verwaltungsgericht, Zivilgericht, Sozialversicherungsgericht, Jugend­gericht, Gericht für fürsorgerische Unterbringung, Mieterschlichtungsstelle und noch mehr. Einzelne Antworten der Gerichte sind noch ausstehend, weshalb eine abschliessende Beurteilung nicht möglich ist.

Aufsicht durch Appellationsgericht

Das GOG hat dem Appellationsgericht die Aufsicht gegenüber den anderen Gerichten in die Hände gelegt:

§ 90. 1
Das Appellationsgericht als Gesamtgericht hat folgende besonderen Aufgaben:

  1. Es nimmt die ihm durch das Gesetz übertragenen Wahlen vor;
  2. Es genehmigt die gesetzlich vorgesehenen Reglements der unteren Gerichte;
  3. Es beaufsichtigt die unteren Gerichte unter Wahrung der gerichtlichen Unabhängigkeit der beaufsichtigten Instanzen; die Aufsicht erfolgt durch Beschlüsse und Weisungen;
  4. Es nimmt periodische Visitationen der unteren Instanzen vor und nimmt deren Berichte über ihre Geschäftsführung entgegen.

Fehlende Genehmigung: Es ist unbeantwortet, ob das Appellationsgericht die Reglements zur Besetzung der Spruchkörper der beaufsichtigten Gerichte genehmigt hat, wie es das neue Gerichtsorganisationsgesetz seit 01.07.2016 verlangt. Das Strafgericht hat kein solches Reglement und das Appellationsgericht auch nicht.

Fehlende Aufsicht: Ob das Appellationsgericht die Reglements zur Besetzung der Spruchkörper der beaufsichtigten Gerichte angemahnt hat, falls diese noch nicht zur Genehmigung eingereicht wurden, ist offen – und dies 9 Monate nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes.

Mangels genehmigten Reglements ist kein Spruchkörper nach den Vorschriften dieses Gesetzes besetzt und damit kraft Gesetz nicht entscheidfähig. Soweit der Autor informiert ist, gibt es kein genehmigtes Reglement der Gerichte. Dies betrifft das Jugendgericht, das Sozialversicherungsgericht, das Verwaltungsgericht, das Zivilgericht, das Gericht für fürsorgerische Unterbringungen, und die Schlichtungsbehörden.

Fazit I

Das Appellationsgericht hat vom 01.07.2016 bis 14.03.2017 all seine Entscheide in Ermangelung eines gesetzesnotwendigen Reglements erlassen und dabei allen Verfahrensbeteiligten den verfassungsmässigen Richter verweigert.


Fazit II

Das Appellationsgericht hat seit 01.07.2016 all seine appellatorischen Entscheide erlassen, in Ermangelung der gesetzesnotwendigen Reglements der beaufsichtigten Gerichtsinstanzen und dabei allen Verfahrensbeteiligten in allen Verfahren den verfassungsmässigen Richter verweigert.

Bis jetzt ist dazu von keinem Gericht ein nach GOG 2016 genehmigtes Gerichtsreglement publiziert. Die Justiz wird damit zur geheimen Kabinettsjustiz und ist damit verfassungswidrig.

Post Scriptum

Das Appellationsgericht hat mit Schreiben vom 16.03.2017 dem Autor mitgeteilt, dass die Reglements in Bearbeitung seien, beim Justizdepartement zur Prüfung seien, und demnächst mit einer Publikation im Kantonsblatt zu rechnen sei. Pro futoro wird damit eine gesetzes- und verfassungskonforme Lage geschaffen, für alle Justizverfahren ab 01.07.2016 bis zur Publikation und bis zum Inkrafttreten der Reglements bleibt die dargestellte Rechtslage unverändert: verfassungswidrige Spruchkörper der Gerichte.

 

Quelle: artax Fide Consult AG
Artikelbild: © Evlakhov Valeriy – shutterstock.com

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