Ist die Züricher U-Haft unzumutbar für Insassen?
von Caroline Brunner
Der Mann hatte in der Nacht nach seiner Verhaftung in seiner Zelle im Polizeigefängnis Zürich Selbstmord begangen. Offensichtlich hatte während der Nachtwache niemand nach dem Häftling geschaut, unter anderem, so die Züricher Kantonspolizei, weil es keine Hinweise auf erhöhte Suizidalität gegeben habe.
Dennoch scheint dieser Vorfall nicht der erste gewesen zu sein, der die Aufmerksamkeit der zuständigen Behörden geweckt hat. Eine vom Bund initiierte Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat die Bedingungen in den Schweizer Untersuchungsgefängnissen zu einem Schwerpunktthema erklärt. Ihr Vizepräsident, Leo Näf, möchte die vorkommenden Suizide in den Haftanstalten auf null reduzieren. Inwieweit die herrschenden Zustände die Selbstmorde bedingen könnten, will die Kommission jetzt klären. Eine Delegation ist bereits im Polizeigefängnis Zürich vor Ort gewesen; der entsprechende Bericht soll bis Ende 2014 an den Regierungsrat gehen.
Diesen intensivierten Bemühungen liegt ein rechtsstaatliches Paradox zugrunde. Denn für die Untersuchungshaft gilt: Alle dort Einsitzenden sind so lange unschuldig, bis ein Schweizer Richter anderes verkündet. Dieser juristischen Unschuldsvermutung steht jedoch die exekutive Wirklichkeit gegenüber. Laut Näf sind die Haftbedingungen in den Schweizer Untersuchungsgefängnissen die strengsten überhaupt. Die Kommission wird sich mit der Frage beschäftigen müssen, ob sie überhaupt mit den Grundrechten der Inhaftierten vereinbar sind.
Denn Letztere sind meist überhaupt nicht auf das vorbereitet, was sie nach ihrer Verhaftung erwartet – anders als etwa ein verurteilter Straftäter, der durch Anwälte und eigene Erfahrung schon eine ungefähre Ahnung davon hat, wie das Prozedere der Einlieferung und der Gefängnisaufenthalt selber sich darstellen werden. Wer in Untersuchungshaft kommt, wird meist von der Polizei festgenommen und in Handschellen gelegt, dann einer Leibesvisitation unterzogen und für mindestens 23 Stunden eingeschlossen – allerdings oft ohne Belehrung, wie lange der Haftzustand anhalten kann. Ein Kontakt nach aussen ist mit Ausnahme der Hinzuziehung eines Anwaltes in dieser Zeit so gut wie immer ausgeschlossen. Zur Sorge um die eigene Person kommt so auch noch die um Angehörige.
Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass sich bei vielen derart Inhaftierten eine Unschuld später tatsächlich herausstellt – das Traumaerlebnis also oftmals noch nicht einmal wissentlich herbeigeführt beziehungsweise in Kauf genommen wurde.
Psychologische Studien haben ergeben, dass die erste Zeit nach der Verhaftung und Unterbringung in Untersuchungshaft entscheidend ist hinsichtlich einer bestehenden Suizidgefahr. Die meisten Selbstmorde werden in diesen ersten Stunden und Tagen der Unsicherheit begangen – und zwar höchstwahrscheinlich in einem an Unzurechnungsfähigkeit grenzenden Schockzustand, der von Psychologen „Haftpsychose“ genannt wird. Diese ist die emotionale Reaktion des Inhaftierten auf den plötzlichen Freiheitsentzug und zeichnet sich durch Angst, Verzweiflung, Wut, Apathie oder eben auch depressive Verstimmung und Repression mit Suizidgefahr aus. Ob eine Haftpsychose auftritt oder nicht, wird massgeblich von den Haftbedingungen mitbestimmt.
Verstärkt wird das Problem noch durch eine Praxis, die sich seit der 2011 in Kraft getretenen Strafprozessordnung eingebürgert hat. Seitdem dürfen Staatsanwälte nämlich für Verdächtige von Anfang an durchgängig drei Monate Haft beantragen – und tun dies auch zunehmend häufig, unabhängig von der Art des Deliktes und der zunehmenden Enge in Schweizer Gefängnissen. Zuvor durfte die Verwahrung höchstens für einen Monat festgesetzt werden, nach dessen Ablauf zugunsten des Inhaftierten geprüft werden musste, ob Gründe für eine weitere Verlängerung gegeben waren. Zwar entscheiden die Haftrichter, ob dem Antrag der Staatsanwaltschaft stattgegeben wird, doch meist tun sie dies zugunsten der maximalen Dauer. Dies gibt dem Gericht Zeit, die immer bürokratischer werdenden Formalitäten abwickeln und die immer komplexer werdenden Fälle durchleuchten zu können.
Doch gerade bei einer durchschnittlich längeren Haftdauer müssen die Bedingungen einer Haftpsychose vorbeugen. Leider sind die Schweizer Zustände vor allem im Vergleich zu Untersuchungsgefängnissen in anderen Ländern sehr restriktiv. Als besonders hervorstechend wird der sogenannte Einschluss empfunden. Haftinsassen haben nur eine Stunde Bewegung an der frischen Luft am Tag, den Rest der Zeit verbringen sie in ihren Zellen. Die Kommission prüft nun Modelle, die international bereits greifen. Dazu gehören kontinuierliche Kontrollvisiten durch das Gefängnispersonal, früh gewährte Beschäftigungsmöglichkeiten, eine kontrollierte Gemeinschaftshaft und eine eventuelle Zellenüberwachung per Kamera, um Selbstmordversuche frühzeitig entdecken und verhindern zu können.
Allerdings scheinen sich hier Theorie und Praxis zu widersprechen. Diese Ideen nämlich finden keine durchgehend positive Resonanz bei den für die Umsetzung des Strafvollzugs Verantwortlichen. Vor allem die Kameraüberwachung stösst auf Widerstand. Zum einen sei sie unvereinbar mit dem Persönlichkeitsschutz, so Thomas Mannhart, Leiter des Züricher Amtes für Justizvollzug. Zum anderen würde dadurch die Intimsphäre der Inhaftierten noch weiter eingeschränkt und ein zusätzlicher Stressor eingeführt. Mannhart ist auch davon überzeugt, dass das vorhandene Personal bereits sehr gut dazu in der Lage sei, drohende Suizide zu erkennen und dann einen Psychiater oder den Gefängnisarzt hinzuzuziehen. Problematisch werde es allerdings, wenn dem Häftling die Haftpsychose überhaupt noch nicht anzumerken sei.
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