Der Völkermord  an den Armeniern – der erste systematische Genozid des 20. Jahrhunderts

Vor 100 Jahren beschloss das Osmanische Reich die Deportation und Vernichtung des armenischen Volkes.

Dem ersten systematischen Genozid des 20. Jahrhunderts fielen zwischen 800’000 und 1,5 Millionen Armenier zum Opfer. Die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches verweigert bis heute die Anerkennung dieses Völkermords.

Am 24. und 25. April 1915 begannen die osmanischen Behörden damit, die armenische Elite in Konstantinopel und anderen Städten des Reiches zu verhaften. Vier Wochen später belief sich die Zahl der armenischen Gefangenen und Deportierten nach amtlichen Darstellungen auf 2345 Personen. Am 27. Mai 1915 erliess das osmanische Parlament schliesslich ein offizielles Deportationsgesetz, das bis Anfang Februar 1916 in Kraft blieb. Die Katastrophe des armenischen Volkes – die AGHET – hatte begonnen.

Deportation ins Nichts – die armenische AGHET

Offiziell sollten die Deportierten in die nordsyrische Stadt Aleppo „umgesiedelt“ werden, die der deutsche Historiker und Journalist Wolfgang Gust später als „Epizentrum des Völkermords“ beschrieb. Der Hauptverantwortliche für dieses Verbrechen – der ehemalige Grosswesir des Osmanischen Reiches, Talât Pascha – wurde am 15. März 1921 in seinem Berliner Exil von einem armenischen Studenten, Soghomon Tehlirian, erschossen. Im Prozess gegen ihn zitierte der evangelische Theologe und Orientalist Johannes Lepsius, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts über Massaker an den Armeniern berichtet hatte, als Sachverständiger aus einem Erlass Talât Paschas: Der osmanische Innenminister hatte ausdrücklich befohlen, die Armenier „ins Nichts“ zu deportieren.

Die über 3000 Jahre alte Kultur der Armenier wurde durch die Deportationen ausgelöscht – einmal abgesehen von der heutigen Republik Armenien in der Kaukasus-Region, in der knapp drei Millionen Menschen leben, ist die armenische Diaspora heute über die ganze Welt verstreut. Das Auswärtige Amt des deutschen Kaiserreiches wusste über die Pläne und den Ablauf des Völkermords von Anfang an Bescheid, gewährte seinen Verbündeten jedoch freie Hand. Auch die internationale Gemeinschaft unternahm so gut wie nichts, um den Armeniern zu helfen.


Die über 3000 Jahre alte Kultur der Armenier wurde durch die Deportationen ausgelöscht. (Bild: © Everett Historical – shutterstock.com)

Wer sind die Armenier?

Die Armenier sind ein kleinasiatisches Volk, dessen historische Wurzeln tief in vorantiken Zeiten liegen. Erstmals erwähnt wurde Armenien im Jahr 521 v. Chr. vom persischen König Dareios I. („Darius der Grosse“). Nach der Eroberung Kleinasiens durch Alexander den Grossen im Jahr 334 v. Chr. wurde es von einheimischen Dynastien unter der Oberherrschaft der Seleukiden regiert. Seine grösste Ausdehnung erreichte das historische Armenien im letzten Jahrhundert v. Chr. – es erstreckte sich auf das Gebiet der heutigen Osttürkei sowie Teile Syriens, Iraks und des Irans von der Levante bis zum Kaspischen Meer.

In dieser Zeit vollzog sich auch die endgültige Konsolidierung der armenischen Kultur. Die Landessprache war Armenisch, für Regierungsdekrete wurde das Aramäische – eine damalige „lingua franca“ der Region – verwendet. Religiöse und literarische Texte wurden auch in Griechisch abgefasst. Im Jahr 301 traten die Armenier zum christlichen Glauben über – Armenien wurde damit der erste Staat der Welt, der diesen Schritt vollzog. Im September 2001 konnte die Armenische Apostolische Kirche ihr 1700-jähriges Bestehen feiern. Die armenische Schrift wurde um 405 durch den Priester Mesrop Maschtoz entwickelt, der später heiliggesprochen wurde.

Der antike armenische Staat wurde schliesslich in den Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und Persien aufgerieben. Die arabischen Eroberer (ab 640) zerstörten die kulturellen und sozialen Strukturen der Armenier zunächst nicht. In den folgenden Jahrhunderten sollte es – allerdings in kleineren Territorien – noch einige Male unabhängige armenische Königreiche geben. Ab dem 11. Jahrhundert lebten die Armenier unter wechselnden Fremdherrschaften respektive türkischen, mongolischen und georgischen Dynastien.

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts waren sie in vielen Teilen des früheren Grossarmeniens zu einer Minderheit geworden. Durch die osmanische Expansion wurde das armenische Kernland endgültig geteilt – ein Prozess, der 1639 abgeschlossen war. Die Westarmenier lebten seitdem unter osmanischer Herrschaft. Ostarmenien fiel zunächst an Persien und 1828 nach dem Russisch-Persischen Krieg an Russland.


Das Osmanisches Reich von 1481 bis 1683 (Bild: © André Koehne – CC BY-SA 2.0)

Die Westarmenier unter den Osmanen

Im Osmanischen Reich waren die Armenier die zweitgrösste christliche Minderheit nach den Griechen. Innerhalb des osmanischen Millet-Systems genossen sie zunächst weitgehende religiöse und kulturelle Autonomie sowie – als „loyale Nation“ – auch soziale Aufstiegschancen. Auf der anderen Seite der Medaille standen im Vergleich zur osmanischen Mehrheit allerdings von Anfang an auch rechtliche Unterprivilegierung und zum Teil offene Diskriminierung.

Die Mehrheit der Armenier im Osmanischen Reich lebte in Ostanatolien sowie in Kilikien in den Regionen Adana und Maras, dem heutigen Kahramanmaraş. Daneben gab es grosse armenische Gemeinden in Konstantinopel, in Smyrna (Izmir) sowie im ägyptischen Alexandria. Das armenisch-apostolische Patriarchat in Konstantinopel gab die Anzahl seiner Kirchenmitglieder unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit 2,1 Millionen an, die osmanischen Behörden und auch die heutige Türkei sprechen dagegen von etwa 1,3 Millionen.

Der „kranke Mann am Bosporus“ und seine Minderheiten

Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war klar, dass es zwischen dem Osmanischen Reich und den europäischen Mächten keinen Wettbewerb auf Augenhöhe geben würde. Die Osmanen waren ökonomisch, technologisch und auch militärisch weit zurückgefallen. Das Reich galt fortan als der „kranke Mann am Bosporus“, dessen diverse Reformansätze im Wesentlichen unvollendetes Stückwerk blieben. Im Hinblick auf die verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften war das interne Gleichgewicht des Osmanischen Reiches immer fragil gewesen – durch das erwachende Nationalbewusstsein der Minderheiten wurde es nun zunehmend obsolet.

Bereits 1830 musste die „Hohe Pforte“ – die Regierung in Konstantinopel – Griechenland in die Unabhängigkeit entlassen. In den Jahren 1875 bis 1878 folgte die sogenannte Balkankrise. Nach dem Russisch-Osmanischen Krieg (1877/1878), dem Friedensvertrag von San Stefano und der Berliner Konferenz verliessen die heutigen südosteuropäischen Staaten endgültig den osmanischen Staat. Gleichzeitig handelten die internationalen Mächte in Berlin ihre Einflusssphären aus – mit dem Ergebnis, dass künftig nicht nur Russland, sondern auch Deutschland, Österreich-Ungarn, Grossbritannien, Frankreich und Italien ihre Interessen in den osmanischen Gebieten geltend machten.

Das 19. Jahrhundert: Erwachen des armenischen Nationalbewusstseins

Das Schicksal der Armenier ist in diese Prozesse eingeordnet. In Artikel 61 des Berliner Vertrages verpflichtete sich Sultan Abdülhamid II. zwar, ihnen einige Autonomierechte zu gewähren und sie vor kurdischen Übergriffen zu schützen – umgesetzt wurden diese Verpflichtungen indessen nie, im Gegenteil gerieten die Armenier zunehmend ins Visier der osmanischen Eliten. Viele armenische Gemeinschaften – naturgemäss vor allem in den Metropolen – prosperierten ökonomisch und wurden vom osmanischen Establishment als ernst zu nehmende Konkurrenz betrachtet. Ein Teil der armenischen Oberschicht forderte explizit Reformen; da diese ausblieben, wuchs die Unzufriedenheit.


Armenien vor dem Genozid (1914) (Bild: © Klaus M. – CC-BY-SA-3.0)

In den 1880er-Jahren gründeten die Armenier verschiedene politische Parteien – unter anderem die sozialdemokratische Huntschak-Partei, aber auch Organisationen, die den bewaffneten Kampf gegen die osmanische Herrschaft propagierten. Ab 1885 begann die armenische Landbevölkerung, sich gegen Übergriffe in sogenannten „Selbstschutzverbänden“ zu organisieren. Im Gegenzug schuf die Regierung ab 1891 mit den sogenannten Hamidiye irreguläre Kavallerieeinheiten, deren Mitglieder sich überwiegend aus Sultan-loyalen kurdischen Stämmen rekrutierten. Offiziell sollten sie die Grenzen des Reiches zu Russland schützen, de facto jedoch die Armenier und ihre Autonomiebestrebungen bekämpfen. In den folgenden Jahren und vor allem in den Ereignissen der Jahre 1915 und 1916 spielten die Hamidiye eine besonders unheilvolle Rolle.

1894 bis 1896 – erste antiarmenische Pogrome

Zu den ersten Massakern an den Armeniern kam es in den Jahren 1894 bis 1896. Der vordergründige Auslöser waren Ressourcenstreitigkeiten zwischen der ländlichen armenischen Bevölkerung und den von der „Hohen Pforte“ privilegierten Kurden sowie die von Konstantinopel eingeführte doppelte Steuerlast für die Armenier und andere Minderheiten. Die armenischen Proteste in Anatolien griffen schliesslich auch auf andere Regionen und die Städte über. In den darauffolgenden antiarmenischen Pogromen kamen zwischen 80’000 und 300’000 Menschen um.


Ein Augenzeuge schildert das Massaker an den Demonstranten in Konstantinopel im Sommer 1896. (Bild: © Everett Historical – shutterstock.com)

Ausländische Diplomaten berichteten, dass die osmanischen Behörden die angeblich informellen Ausschreitungen gegen die Armenier in offensiver Weise unterstützten. Aus Sicht von Historikern ging es dabei trotz der Massivität der Übergriffe noch nicht um einen systematischen Völkermord, da die Armenier weder ausgerottet noch vertrieben, sondern „nur“ auf ihren (marginalen) Platz in der osmanischen Gesellschaft verwiesen werden sollten. Bis 1908 waren sie zudem in ihrer Bewegungsfreiheit innerhalb des Reiches eingeschränkt, was die ökonomischen Grundlagen der armenischen Gemeinschaften empfindlich traf.

Die jungtürkische Ideologie schliesst Minderheitenrechte aus

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs blieb die Lage der Armenier im Osmanischen Reich prekär.  Übergriffe, gewaltsame Auseinandersetzungen und antiarmenische Ressentiments gehörten zur Tagesordnung. Verbesserungen versprachen sich die Armenier zunächst von der Machtübernahme der Jungtürken im Jahr 1908 und den Bestrebungen dieser in sich durchaus heterogenen Bewegung, ein parlamentarisch-konstitutionelles System sowie Minderheitenrechte zu etablieren. Die Jungtürken und deren Führungsgremium – das 1899 als Geheimorganisation gegründete „Komitee für Einheit und Fortschritt“ – gingen jedoch andere Wege. Sie setzten auf einen radikalen türkischen Nationalismus mit dem Ziel eines „Grosstürkischen Reiches“, das über Aserbaidschan und Turkestan bis nach China reichen sollte.

In modifizierter Form und mit dem Fokus auf die Kerntürkei wurde er nach dem endgültigen Zusammenbruch des Osmanischen Reiches unter Kemal Atatürk ab 1923 zur Staatsdoktrin, die ihre Gültigkeit und ihren Einfluss bis heute nicht verloren hat. Für ethnische und religiöse Minderheiten war in dieser Ideologie und bald auch in der Realität kein Platz mehr vorgesehen.

Nach scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen und einem temporären Machtverlust der jungtürkischen Bewegung kehrte das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ 1913 durch einen Militärputsch an die Macht zurück. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wurde das Osmanische Reich vom sogenannten „Triumvirat“ – Enver Pascha, Talât Pascha und Cemal Pascha – als Militärdiktatur regiert. Alle drei gehören zu den Hauptverantwortlichen der AGHET.

Antiarmenische Propaganda als Auftakt für den Genozid

Der Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg erfolgte am 14. November 1914 auf Seiten der „Mittelmächte“ Österreich und Ungarn – vor allem ihrem Erzrivalen Russland standen die Osmanen nun ein weiteres Mal auf dem Schlachtfeld gegenüber. Ihre erste wesentliche Kampfhandlung war eine gross angelegte Kaukasus-Offensive, die für das Osmanische Reich im Übrigen verheerend ausging. In der Regierungspropaganda wurden die Armenier zu den Kollektivschuldigen an der Niederlage gegen Russland – der sich abzeichnende Genozid warf seine ersten Schatten voraus.

Wann das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ den Beschluss zur Vernichtung der Armenier fasste, ist nicht mit Sicherheit bekannt. Nach der Schlacht von Gallipoli im April 1915, in der die Osmanen ihre Stellungen gegen eine Übermacht britischer und französischer Truppen sowie australischer und neuseeländischer Freiwilligenverbände halten konnten, sahen die Jungtürken jedenfalls die Zeit dafür gekommen. Zunächst wurden die armenischen Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet, interniert und wenig später hingerichtet. Darauf folgte die Liquidation der armenischen Eliten. Zu den unmittelbaren Tätern zählten neben den Hamidiye sowie regulären Armee- und Polizeieinheiten auch jungtürkische Milizen und Freiwilligen-Bataillone.

Enteignungen, Massaker, Todesmärsche

Von Februar bis April 1915 hatten die ersten Deportationen stattgefunden, die jedoch noch nicht auf eine planmässige Vernichtung der Armenier abzielten. Nach dem armenischen Aufstand im ostanatolischen Van im April 1915 verschärfte sich die Gangart, das Deportationsgesetz gab den Weg für die Todesmärsche frei. Die Armenier wurden entschädigungslos enteignet, ihre bewegliche Habe konfisziert oder geplündert. Besonders perfide war ein Gesetz, das es der osmanischen Bevölkerung verbot, an Armenier irgendwelche Nahrungsmittel abzugeben.

Bis zum Sommer 1915 wurden die Armenier zunächst in den Hauptstädten der jeweiligen Verwaltungsbezirke (Vilayets) konzentriert, viele wurden bereits dort oder auf dem Weg dorthin ermordet. Die Überlebenden wurden durch unwegsame Gebiete in die Gegend von Aleppo deportiert.

Der damalige deutsche Vizekonsul im ostanatolischen Erzurum – armenisch: Arzen – berichtete im Juni 1915 an seine Vorgesetzten, dass er aus sicherer Quelle wisse, dass die „schroffere Richtung“ der Jungtürken respektive alle massgeblichen Militär- und Regierungsbeamten die Ausrottung der Armenier durch Massaker sowie die Märsche nach Syrien und Mesopotamien planten. Am 31. August desselben Jahres liess Talât Pascha den deutschen Botschafter in Konstantinopel wissen, dass die „Armenierfrage“ endgültig gelöst sei. Das Morden ging jedoch auch in den folgenden Jahren weiter. Die letzten Ausläufer des osmanischen Genozids an den Armeniern sollten bis zum Jahr 1923 dauern.


Am 27. Mai 1915 erließ die Regierung ein Deportationsgesetz, das die Sicherheitskräfte anwies, die Armenier zu deportieren. (Bild: © narek781 – CC BY-SA 2.0)

Beatrice Rohner – eine engagierte Schweizer Helferin

Die  Deportationen zeigten überall dasselbe Muster. Die Armenier wurden entwaffnet, die wehrfähigen Männer ausgeschaltet und die lokalen Eliten liquidiert. Alle anderen wurden entweder ebenfalls an Ort und Stelle massakriert oder auf den Marsch ins Nichts geschickt. Osmanische Offizielle, die sich den Deportationen widersetzten, wurden abgesetzt und zum Teil hart bestraft.

Überliefert sind mündliche Befehle an die Gouverneure, die Deportierten unterwegs zu töten. Auch internationale humanitäre Hilfe für die Armenier lehnte Konstantinopel rundweg ab. Punktuell leisteten Europäer und vor allem christliche Organisationen Unterstützung. Beispielsweise engagierte sich die Schweizer Theologin Beatrice Rohner bereits seit 1899 vor Ort für die Armenier und arbeitete lange als Waisenhausmutter und Lehrerin im kilikischen Maras. In den Jahren des Genozids leitete sie ein Waisenhaus in Aleppo und organisierte von dort aus einen Botendienst in die Konzentrationslager bis nach Deir El-Zor in der Nähe der heutigen irakischen Grenze.

1917 wurden auch „ihre Kinder“ deportiert, deren Eltern schon zuvor ermordet worden waren. Nach dem Willen der Machthaber in Konstantinopel sollte die Räumung der christlichen Kinderheime die letzte Etappe auf ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Armenier sein. Am Tag, an dem ihre Schützlinge in einen Sonderzug verladen wurden, brach Beatrice Rohner seelisch und körperlich zusammen. Ihre Erlebnisse verarbeitete sie später in mehreren Schriften, die heute allerdings fast vergessen sind.

Erwähnt werden muss jedoch auch, dass grosse Teile der Bevölkerung die Grausamkeiten ihrer Regierung nicht nachvollziehen konnten. Der Schriftsteller Armin T. Wegener – damals Sanitätsoffizier im osmanischen Heer und auf der Suche nach dem „Orient“ – wurde mit seinen Fotografien zum wichtigsten Bildchronisten dieses Völkermords. Er schrieb, dass viele osmanische Beamte sich geweigert hätten, die Deportations- und Mordbefehle auszuführen. Der Gouverneur von Aleppo wollte für die Deportierten provisorische Behausungen errichten lassen, sein Gesuch darum wurde in Konstantinopel abschlägig beschieden. Martin Niepage, seinerzeit Lehrer an der deutschen Schule in Aleppo, berichtete, dass viele Türken und Araber die Deportationszüge mit Tränen in den Augen sahen. Teilweise versuchte die lokale Bevölkerung, den Armeniern zu helfen und sie zu verstecken – an anderen Orten brach allerdings der programmierte „Volkszorn“ gegen die Opfer aus.


Armin T. Wegner, 1916 in Bagdad (Bild: wiki.org)

Die westlichen Regierungen überliessen die Armenier ihrem Schicksal

Kaum anders sah es bei den westlichen Regierungen und ihren offiziellen Vertretern in Konstantinopel aus. Bescheid wussten die Diplomaten fast von Anfang an. Der US-amerikanische Botschafter Henry Morgenthau resümierte in seinen Memoiren, dass die türkischen Machthaber ihm gegenüber offen formuliert hätten, dass sie ein „Todesurteil für eine ganze Rasse“ gefällt hätten. Der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg missbilligte diplomatische Interventionen seines Sonderbotschafters gegenüber dem osmanischen Führungszirkel um Enver Pascha und den Plan, die Deportationen öffentlich zu machen. Es gehe nicht an, einen Bundesgenossen während eines laufenden Kriegs zu düpieren, zumal das Deutsche Reich die Türken während eines länger andauernden Kriegs noch nötig brauchen werde – und zwar gleichgültig, ob die Armenier dabei zugrunde gingen oder nicht.

Viele deutsche Militärs pflegten enge Beziehungen zu ihren osmanischen Kollegen – neuere Forschungen machen deutlich, dass ein Teil von ihnen die osmanische Sicht auf die „armenische Frage“ durch ihre eigenen Rassentheorien unterlegte, in denen die Armenier als „Händlervolk“ ebenso wie die Juden als ein „minderwertiger“ Teil der Menschheit abgestempelt wurden. Auch vonseiten anderer Staaten gab es im Übrigen kaum Proteste. Die Armenier starben und die internationale Gemeinschaft schwieg.

Durch seine federführende Rolle beim Bau und Betrieb der Bagdad-Bahn war Deutschland auch direkt in die Deportationen involviert. Die Artillerieangriffe auf den Musa Dagh befehligte ebenfalls ein deutscher Verbindungsoffizier. Auf dem Mosesberg in der Nähe von Antakya hatten sich 1915 unter dem ehemaligen Offizier Moses Der Kalousdian 4048 Armenier – darunter 3005 Frauen und Kinder – 53 Tage lang gegen die osmanische Belagerung gewehrt, bis sie durch ein französisches Kriegsschiff gerettet wurden. Der Geschichte dieser Widerständigen, die damit als einzige während des Genozids erfolgreich waren, setzte der österreichische Schriftsteller Franz Werfel später in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ ein Denkmal.

Und natürlich gab es auch eine andere Seite: Beispielsweise überlebten die armenischen Gemeinden von Konstantinopel und Smyrna nur deshalb, weil sich der deutsche General Liman von Sanders unter Androhung militärischer Massnahmen gegen die Massaker und Deportationen stellte.

Armenische Emigration auf alle Kontinente

Den Genozid an den Armeniern überlebten zwischen 300’000 und 600’000 Menschen, etwa 250’000 von ihnen überstanden die Deportationen und Todeslager. Viele von ihnen flüchteten zunächst in die arabischen Teile des Osmanischen Reiches, in denen Konstantinopel seine Macht verloren hatte. Ein grösserer Teil der armenischen Flüchtlinge im Nahen Osten emigrierte später nach Europa, Nord- und Südamerika oder nach Australien. Denjenigen, die nach Russisch-Armenien geflüchtet waren, war dagegen oft nicht einmal elementare Sicherheit beschieden. Zehntausende von ihnen fielen den Angriffen der kemalistischen Gegenregierung auf die Demokratische Republik Armenien in den Jahren 1918 bis 1920 sowie den Wirren der russischen Revolution zum Opfer.

In der Türkei lebten im Jahr 1922 schätzungsweise noch 100’000  Armenier, in den 1980er-Jahren gaben nur noch 25’000 türkische Staatsbürger an, armenischer Abstammung zu sein. Die materiellen und vor allem die kulturellen Verluste durch den Völkermord lassen sich kaum beziffern. Die Klöster, Kirchen und Schulen der Westarmenier wurden geplündert und zerstört, ihre historischen Zeugnisse vernichtet. Auch die westarmenische kulturelle Renaissance des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts fand durch den Genozid ein abruptes Ende. Auch in der Diaspora haben sich die Armenier jedoch ihre Identität, ihre Sprache und Kultur sowie ihre historische Erinnerung bewahrt.

„Unionistenprozesse“ und nationalistisches Vergessen

Auf Druck der Entente-Mächte Grossbritannien, Frankreich und Russland fanden ab dem 5. Februar 1919 die sogenannten „Unionistenprozesse“  gegen die Verantwortlichen des Völkermords statt. In der Rechtsgeschichte waren sie der erste Versuch einer Ahndung von Kriegs- und Staatsverbrechen auf Regierungsebene. Das von Grossbritannien präferierte internationale Tribunal kam aufgrund manifester Interessengegensätze zwischen den Entente-Staaten jedoch nicht zustande.

Angeklagt waren neben den 31 Ministern der Kriegskabinette des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, das den Prozessen ihren Namen gab, zahlreiche Funktionäre, Militärs sowie lokale und regionale Beamte. Von den insgesamt 17 Todesurteilen – darunter auch gegen die Mitglieder des „Triumvirats“ – wurden schliesslich drei vollstreckt. Enver Pascha, Talât Pascha und Cemal Pascha hatten sich den Prozessen durch die Flucht zu ihren deutschen Verbündeten entzogen.

Für die osmanische Nachkriegsregierung unter Sultan Mehmet VI. waren die Verhandlungen vor allem ein taktisches Zugeständnis, um die staatliche Souveränität des Reiches zu erhalten – ein Versuch, der im Übrigen fehlgeschlagen ist. Für die Gründer der modernen Türkei und alle türkischen Regierungen danach spielte die Erinnerung an den armenischen Genozid keine Rolle mehr – im Hinblick auf die dunklen Seiten der eigenen Geschichte vertreten sie bisher eine „eiserne“ Doktrin des nationalistischen Vergessens.

Der Genozid an den Armeniern – für die türkische Zivilgesellschaft heute Thema

Türkische Schulbücher kolportieren bis heute, dass die Armenier im Ersten Weltkrieg wegen ihrer „Kollaboration mit den Russen“ umgesiedelt wurden, zumindest indirekt werden sie als „Spione“ und „kriminelle Elemente“ dargestellt. Die Ermordung Hunderttausender Menschen spielt im offiziellen Geschichtsbild Istanbuls keine Rolle. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk erhielt eine Anklage wegen „Verunglimpfung des Türkentums“, nachdem er im Februar 2005 in einem Interview mit dem Züricher „Tagesanzeiger“ den Völkermord öffentlich erwähnt hatte.

Trotzdem regt sich in der türkischen Zivilgesellschaft seit Jahren Widerstand gegen die offizielle Lesart. Inzwischen gibt es auch in der Türkei Bücher, Kunstwerke und Konferenzen, die sich dem Völkermord an den Armeniern widmen. Der deutsch-türkische Filmemacher Fatih Akin konnte seinen Film „The Cut“, dessen Handlung einen Bogen von der Zeit unmittelbar vor den Deportationen bis in die armenische Diaspora spannt, auch in türkischen Kinos unzensiert und „ohne Todesdrohungen“ zeigen. Akin meint, dass es in der Türkei eine Katharsis gegeben habe, seit der türkisch-armenische Journalist Hrant Dink 2007 ermordet wurde.


Tausende Türken protestierten am Abend des 19. Januar 2007 in Istanbul und Ankara gegen den Mord an Hrand Dink. (Bild: © fulya atalay – shutterstock.com)

Dink war ein politisch engagierter Publizist, dem es in seinem Werk neben aktuellen Themen um Erinnerung an die armenische Tragödie, jedoch auch um Versöhnung ging. Dass sein Mörder tatsächlich ein fanatischer Einzeltäter war, wird bis heute angezweifelt. Gegen die Halbwahrheiten und Lügen in den Schulbüchern hat erst vor Kurzem eine Gruppe türkischer Historiker und Intellektueller – darunter wieder Orhan Pamuk – an offizieller Stelle protestiert. Dass die Regierung Erdogan darauf reagiert, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.

Die heutigen Armenier und die Schweiz

In der Schweiz gibt es seit Langem eine kleine armenische Gemeinde. Wie viele Menschen zu ihr gehören, ist nicht genau bekannt. Schätzungen gehen davon aus, dass zwischen 3000 und 5000 Schweizerinnen und Schweizer armenische Wurzeln haben. In den Jahren des Genozids nahm die Eidgenossenschaft einige Hundert armenische Waisenkinder auf, die zunächst in Genf und Begnins in Heimen lebten, die der Pfarrer Antony Krafft-Bonnard gegründet hatte. Dieser schrieb in einer seiner Arbeiten, dass die Europäer einen Armenier, der sie um Hilfe bittet, nicht als Bettler behandeln, ihre Verpflichtungen nicht leugnen, sondern ihm – mit Respekt und Entschuldigungen – eine helfende Hand entgegenstrecken sollten. Angesichts der gegenwärtigen Krisen und der globalen Flüchtlingsströme ist dieser Satz so aktuell wie selten in den vergangenen Jahrzehnten. Das Zeitalter radikaler Ideologien und potenzieller Genozide ist auch im 21. Jahrhundert nicht zu Ende. 

Den Völkermord an den Armeniern haben bisher über 20 Länder anerkannt, darunter Frankreich, Russland, Schweden, Kanada und Belgien. Seit 2003 gehört auch die Schweiz zu ihnen – die Türkei hatte seinerzeit verärgert reagiert und ihren Botschafter zurückgerufen, drei Jahre später jedoch um Vermittlungshilfe in ihren Gesprächen mit Armenien ersucht. Im Jahr 2013 verurteilte das Schweizer Bundesgericht den türkischen Nationalisten Dogu Perinçec, der während seiner Auftritte in der Eidgenossenschaft den armenischen Genozid geleugnet hatte. Allerdings wird dieser Fall inzwischen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) neu verhandelt, nachdem dieser die Schweiz aufgrund einer Beschwerde Perinçecs wegen einer angeblichen Verletzung der Meinungsfreiheit gerügt hat.

Im Umfeld der Feierlichkeiten zum 100-jährigen Gedenken an den Völkermord ist die Schweiz allerdings etwas in die Kritik geraten. Anders als Russland oder Frankreich, die ihre Präsidenten schickten, war die Eidgenossenschaft zu den Gedenkveranstaltungen in Eriwan nur durch ihren Botschafter und eine parlamentarische Delegation vertreten. Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) teilte dazu mit, dass die Schweiz bei Gedenkfeiern zu internationalen historischen Ereignissen generell Zurückhaltung übe. Zudem habe die Schweiz die „tragischen Ereignisse“ des Jahres 1915 wiederholt offiziell verurteilt, das EDA engagiere sich seit Jahren für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei. Auch ein Denkmalprojekt des französischen Künstlers Melek Ohanian – eine Hommage an die Opfer des Genozids und an die inzwischen mehr als 100 Jahre währende Solidarität der Schweizer – in der Nähe des Genfer „Palais des Nations“ hält das EDA nach über zehnjährigen Diskussionen nicht für angemessen.

Ende 2014 hat sich Nationsratspräsident Didier Burkhalter persönlich in die Debatte eingeschaltet. In seiner Antwort auf eine Anfrage der Genfer Kantonsregierung verwies er auf die Bedeutung des „internationalen Genfs“ und auf die Notwendigkeit eines friedlichen, unparteiischen Umfelds für die Arbeit der internationalen Organisationen. Allerdings – bei aller möglicherweise berechtigten Kritik – konnte die Schweiz gerade durch ihre Neutralität in mehr als einem internationalen Konflikt und bei der Organisation humanitärer Hilfen oft deutlich wirkungsvoller agieren als viele andere Länder.



Ein persönlicher Nachtrag

Vor etwas über zehn Jahren flog ich in den griechischen Teil Zyperns, um einen Institutskollegen zu treffen, den ich aus einer virtuellen Kooperation schon seit Längerem schätzte – die Sympathie war auch bei diesem realen Treffen gegenseitig. Dass Hagop Armenier war, wurde durch seinen Namen deutlich. Bei einem Abendessen in Nikosia – übrigens mit Blick auf die Demarkationslinie zum türkischen Teil der Insel – kamen wir auch auf unsere Familiengeschichten zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass Hagop aus Aleppo kam, wo meine Brüder aufwuchsen. Zeitweise besuchten er und sie dieselbe Schule. Hagops Familie war wie viele andere Armenier in Aleppo ursprünglich durch die AGHET in die nordsyrische Stadt gekommen. Später ging er nach Zypern, um dort ein armenisches College zu besuchen, und kehrte nicht nach Syrien zurück.

Heute – eine Dekade später – haben seine und meine Familie Syrien längst verlassen. Im Nahen Osten tobt eine neue Welle der Gewalt, die erneut Millionen von Menschen auf die Flucht und in die Diaspora zwingt. In ihren Wurzeln wirken neben „modernen“ Konflikten auch die aggressiven nationalistischen Ideen des frühen 20. Jahrhunderts weiter. Wie auch immer diese modernen Bürgerkriege enden – grosse Teile des „alten Nahen Ostens“ werden danach endgültig Geschichte sein. Danach wird es – wie bis heute für die Armenier – um Erinnerungen, zerstörte Lebensmöglichkeiten und, vermutlich weitaus später, um die Chancen einer Versöhnung in ihren persönlichen und kollektiven Dimensionen gehen.

In der Rückschau erscheint mir das Gespräch in Nikosia als ein Symbol für ein fragiles Gleichgewicht zwischen Geschichte, Geschichten und unserer individuellen Gegenwart. Heute würden wir – aus unserer sicheren Position – im Hinblick auf viele Menschen, die wir aus Aleppo kannten, wohl über die Möglichkeiten ihres Überlebens debattieren.

 

Oberstes Bild: © takepicsforfun – shutterstock.com

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