Rückkehr zweifelhaft – Christen schauen skeptisch auf „Befreiung“ Mosuls

Der Sturz Saddam Husseins durch die USA hat die Verhältnisse im Irak durcheinandergewirbelt. Eine Folge: Die Eroberung weiter Teile Nordiraks, u. a. der Millionenstadt Mosul, durch den sogenannten Islamischen Staat (IS). Seit einigen Tagen läuft die „Rückeroberung“ der einst zweitgrößten irakischen Stadt.

Ob diese aber dazu führt, dass geflohene Minderheiten wie die Christen und Jesiden nach Mosul zurückkehren können oder sich Folgekriege anschließen, darüber sprach der irakische Menschenrechtler William Warda vergangene Woche in Zürich. Sein Thema: Die Zukunft der religiösen Minderheiten im Irak.

Mit der Rückeroberung von Mosul sei es nicht getan, sagte Warda. Die religiösen Minderheiten könnten nur in einer föderalistischen säkularen Demokratie überleben, die politische, religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt anerkenne. Rechtstaatlichkeit und Schutz müssten international garantiert werden.

„Nach der ‚Befreiung‘ von Mosul vom Islamischen Staat wird es wahrscheinlich eine weitere Krise geben“, warnte der irakische Menschenrechtler William Warda am vergangenen Dienstag. Warda ist Vorsitzender der Allianz der irakischen Minderheiten und Mitbegründer der Hammurabi-Menschenrechtsorganisation. Sein Vortrag war Teil der Vortragsreihe „Die Zukunft der religiösen Minderheiten im Nahen Osten“ von Christian Solidarity International (CSI).

Garantiemacht erforderlich

Während die irakische, kurdische und türkische Armeen mit ihren verbündeten Milizen und amerikanischer Luftunterstützung auf Mosul vorrücken, gab Warda zu bedenken, dass ein Sieg dieser Koalition über den Islamischen Staat nicht automatisch eine „Befreiung“ bedeute – weder für die Zivilbevölkerung, noch für die hunderttausenden Vertriebenen, die einer religiösen Minderheit angehören. Er erinnerte an Sinjar, das Siedlungsgebiet der Jesiden: „Sinjar wurde bereits vor einem Jahr vom Islamischen Staat ‚befreit‘, bis heute sind jedoch nicht einmal 5 Prozent der Jesiden zurückgekehrt“.

Eine ähnliche Entwicklung sei für Mosul und Umgebung zu erwarten: „Die Mehrheit der Vertriebenen wird nicht in ihre Häuser zurückkehren, solange Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit nicht gewährleistet sind“, sagte Warda voraus. Wenn weder die irakische Regierung noch eine Grossmacht wie die USA oder Russland Sicherheit garantiere, werde die Gewalt sicher weitergehen – möglich sei sogar ein offener Krieg zwischen den rivalisierenden „Befreiern“.

Religiöse Minderheiten in Gefahr

Warda zeigte die zahlreichen Gewalttaten auf, die Christen und Jesiden seit der irakischen Unabhängigkeit 1932 zu erdulden hatten. Der Höhepunkt dieser Entwicklung sei die Terrorwelle der letzten Jahre gewesen, die die Zahl der irakischen Christen von 1,5 Millionen im Jahr 2003 auf heute nicht einmal mehr 300.000 reduziert habe.

Nach dem Einmarsch der Amerikaner hätten extremistische Islamistengruppen Angehörige religiöser Minderheiten gezielt getötet und entführt. Sie hätten ihren Besitz und sogar die weiblichen Angehörigen als „ganima“ betrachtet: als eine „Kriegsbeute“, über die sie von Rechts wegen frei verfügen durften.

„Massenvertreibung beraubte die Christen ihrer traditionellen Stärken im Gewerbe und in der Bildung“, sagte Warda. „In naher Zukunft könnte es unter den Christen sogar wieder Analphabeten geben.“ Zudem würden weniger Ehen geschlossen und weniger Kinder geboren. „Wenn die Gewalt nicht endet, werden Christen und andere religiöse Minderheiten im Irak bald ausgerottet sein.“ Und wenn das geschehe, sagte Warda voraus, werde es für den Irak selbst keine Zukunft mehr geben.

Christenfeindliche Tendenzen im Irak

Die USA hätten das Vorgehen des Islamischen Staats gegen Christen, Jesiden und andere Minderheiten wie die Turkmenen, Schabaken und Kakai zu Recht als „Genozid“ bezeichnet, sagte Warda. Es seien aber Washington und dessen Verbündete in der Kurdischen Regionalregierung (KRG) gewesen, die ihre Streitkräfte – ohne Vorwarnung – plötzlich abgezogen und die Minderheiten dem Islamischen Staat überlassen hätten.

Er wies auch auf die Geringschätzung hin, die die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad gegenüber nicht-muslimischen Minderheiten demonstriere: Die Regierung weigere sich zum Beispiel, Artikel 26 des Nationalen Identitätskarten-Gesetzes abzuschaffen, der Kinder automatisch zu Muslimen mache, wenn ein Elternteil zum Islam konvertiert.

Zudem habe das irakische Parlament letzte Woche ein Alkoholverbot verabschiedet – der Alkoholhandel ist traditionellerweise in christlicher Hand. „Die Regierungen in Erbil und Irak haben die gleiche Haltung“, zog Warda Bilanz: „Sie wollen das Potenzial der Minderheiten entweder dominieren, kontrollieren und einschränken – oder gleich ganz auslöschen.“

Christen fühlen sich alleingelassen

Was die Lage zusätzlich verschlimmere, sei das geringe internationale Engagement für Minderheiten. Es sei schon während der von den USA angeführten „Operation Iraqi Freedom“ 2003 klar gewesen: „Die nicht-muslimischen religiösen Minderheiten zählen für die USA nicht. Die USA konzentrierten sich nur auf die Schiiten, Sunniten und Kurden.“ Die Christen und anderen religiösen Minderheiten hätten „einen hohen Preis“ bezahlt für die amerikanische Besetzung des Iraks.

Taktische Winkelzüge

Plänen für eine autonome christliche Provinz im vom IS zurückeroberten Gebiet steht Warda skeptisch gegenüber: „Die Christen und Jesiden werden zweifellos von gewissen Leuten dazu gedrängt, eine solche Provinz zu fordern, weil diese Leute denken, dass das Gebiet dann der Kurdischen Regionalregierung oder einer anderen Region zugeschlagen wird“.

Eine solche Lösung würde den Christen jedoch nichts nützen, sagte Warda: „Im Gebiet, das für eine solche Provinz vorgesehen wäre, wurden Hunderttausende aus ihren Häusern vertrieben – und davon haben 50 Prozent das Land bereits verlassen“.

Föderalismus die einzig mögliche Lösung

Wenn religiöse Minderheiten im Irak überleben sollen, gebe es keine andere Lösung als Rechtstaatlichkeit und international garantierten Schutz. „Die Zentralregierung und die Kurdische Regionalregierung haben das Vertrauen der Minderheiten verloren“, sagte Warda. „Sie müssen von der UNO oder von einer Supermacht ein Mandat oder Unterstützung bekommen“, damit Schutz und Gerechtigkeit garantiert seien.

„In einer föderalistischen säkularen Demokratie, die politische, religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt anerkennt, könnten die Minderheiten überleben.“ Eine solche Demokratie müsse jedoch auf Sicherheit und Rechtstaatlichkeit gründen – solange diese fehlen, würden die irakischen Minderheiten den einzigen Ausweg wählen, der ihnen bleibe: die Emigration.

Dr. John Eibner, bei CSI für den Nahen Osten verantwortlich, merkte an: „Es ist noch nicht klar, ob die aktuelle Rückeroberung von Mosul wirklich eine Befreiung ist – auch 2003 wurde die Stadt ‚befreit‘  – oder nur ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zur Zerstörung der irakischen Minderheiten.“

 

Artikel von: Christian Solidarity International (CSI)
Artikelbild: © sevenMaps7 – shutterstock.com

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