Google-Urteil: "Recht auf Vergessen" plötzlich in der Kritik

Das im Mai gefällte Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum sogenannten „Recht auf Vergessen“ wurde bisher als grosse Errungenschaft des Datenschutzes gefeiert. Nachdem nun allerdings die ersten Links aus Google verschwunden sind, schlägt die Euphorie ins Gegenteil um und Kritiker reden plötzlich von Zuständen wie in China.

Der erste Fall, der für Schlagzeilen sorgte, war ein Blogbeitrag auf der Webseite der BBC. Dieser Beitrag mit dem Titel „Merril’s Mess“ wurde im Oktober 2007 vom Wirtschaftsjournalisten Robert Peston verfasst und handelt vom ehemaligen Chef der Bank, Merril Lynch. Auch wenn der Artikel schon mehrere Jahre zurückliegt, ist er derzeit einer der am häufigsten angeklickten Beiträge auf dem Internetportal der BBC – denn seit Anfang Juli wird der Link auf Google nicht mehr angezeigt.

Anstossgebend für die jetzt entflammte Diskussion ist der spektakuläre Entscheid des Europäischen Gerichtshofs vom Mai dieses Jahres. In diesem gaben die Richter einem Spanier recht, der nicht mehr wollte, dass beim Googeln nach seinem Namen ein über zehn Jahre alter Zeitungsartikel auftauchte, der über die Zwangspfändung seines Hauses berichtete. Als direkte Folge dieses Urteils ist es Einzelpersonen nun möglich, Suchergebnisse entfernen zu lassen, die ihren Namen mit gegenstandslosen, unangemessenen, überzogenen oder nicht mehr aktuellen Informationen in Verbindung bringen.

Welche Auswirkungen dieser Entscheid allerdings haben kann, zeigte sich in den letzten Tagen und Wochen, denn nicht nur der Fall der BBC sorgte für Schlagzeilen. Auch der Löschantrag von Robert Sayer, dem früheren Chef der britischen Anwaltskammer, sorgte für hitzige Diskussionen. Im Jahr 2002 kam ans Licht, dass er gefälschte Beschwerden gegen seine asiatische Stellvertreterin in Umlauf gebracht haben soll, um sie in der Öffentlichkeit zu diffamieren. Oder der Fall von Dougie McDonald, dem schottischen Schiedsrichter, der im Jahr 2010 zurücktreten musste, da herauskam, dass er einem seiner Assistenten die Schuld an einem folgenschweren Fehlentscheid in die Schuhe geschoben hatte. In beiden Fällen gab Google den Anträgen statt und löschte die entsprechenden Links zu mehreren britischen Zeitungen.

Experten sollen die Richtlinien festlegen

Jeder neue Fall heizt die Diskussion um Sinn und Unsinn des Google-Urteils weiter an. Kritiker fordern, dass Google nicht selbst darüber entscheiden sollte, wer welche Links aus seiner Vergangenheit tilgen darf. Dabei verweisen sie vor allem auf den zuvor genannten Fall des schottischen Schiedsrichters, der kaum vier Jahre her ist.

Besonders in Grossbritannien erhitzen sich die Gemüter immer stärker. Der Justizminister Simon Hughes bezeichnete das Urteil sogar als „unpraktisch und unsinnig“. Google selbst sieht die bisherigen Patzer bei den Löschanträgen allerdings lediglich als „Kinderkrankheiten“ der Anfangsphase an und ist davon überzeugt, diese in der nächsten Zeit beheben zu können. Der Suchmaschinenriese suche nach Aussage seines Chefjuristen noch nach der richtigen Balance und hat mittlerweile auch wieder alle Artikel verlinkt, deren Löschung für öffentliche Diskussionen gesorgt hatte. Zudem hat Google seinen Expertenbeirat, der die Eckdaten für rechtmässige Löschanträge festlegen soll, um die frühere deutsche Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger erweitert. Weitere bekannte Mitglieder dieses Gremiums sind Sylvie Kauffmann von der Zeitung „Le Monde“ sowie Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales.


Von den über 70.000 Löschanträgen, die Google bis Ende Juni bereits erhalten hat, stammten 1.645 aus der Schweiz. (Bild: Violetkaipa / Shutterstock.com)
Von den über 70.000 Löschanträgen, die Google bis Ende Juni bereits erhalten hat, stammten 1.645 aus der Schweiz. (Bild: Violetkaipa / Shutterstock.com)


Löschanträge stammen auch aus der Schweiz

Von den über 70.000 Löschanträgen, die Google bis Ende Juni bereits erhalten hat, stammten 1.645 aus der Schweiz. Auch diese werden von Google umgesetzt, obwohl das Urteil des Europäischen Gerichtshofes hierzulande nicht gilt. Dies freut besonders die Schweizer Datenschützer, denn sie sind der Überzeugung, dass auch Schweizer Gerichte kein anderes Urteil fällen würden.

In der Schweiz ist es bislang allerdings eher ruhig geblieben, was daran liegen mag, dass noch kein Fall bekannt geworden ist, bei dem ein Schweizer Link gelöscht worden ist. Aber selbst wenn es früher oder später zu Linklöschungen in der Schweiz kommen sollte, würden diese von den Datenschützern als positiv angesehen werden. Schliesslich führt das Google-Urteil dazu, dass das „Recht auf Vergessen“, wie es seit Jahrzehnten im Schweizer Rechtssystem verankert ist, jetzt auch auf das Internet angewendet wird. Somit muss Google jetzt dieselben Pflichten erfüllen wie ein Journalist und bei jedem Link zwischen öffentlichem Interesse und Privatsphäre der betreffenden Personen abwägen.

Was das Schweizer „Recht auf Vergessen“ im Konkreten bedeuten kann, zeigen frühere Urteile des Bundesgerichtes: Anfang der 80er Jahre sprachen die Richter beispielsweise ein Verbot aus, welches es der SRG untersagte, ein Hörspiel über Paul Irniger auszustrahlen. Mitte der 90er wurde entschieden, dass einem Unternehmenssanierer nicht mehr seine zehn Jahre alte Verurteilung wegen Vermögensdelikten vorgeworfen werden dürfe. In einem ähnlich gelegenen Fall erhielt ein Opfer im Jahr 2003 sogar eine halbe Million Franken Schadensersatz, da es aufgrund des Artikels seine Arbeit verloren hatte und nun unter Depressionen litt.



Die Informationen bleiben erhalten

Die steigende Angst vor einer Beschneidung der Pressefreiheit durch das Google-Urteil können Schweizer Datenschützer nicht nachvollziehen. Schliesslich werden die Informationen ja nicht gelöscht, sondern nur der Zugang zu ihnen erschwert – es wurden mittlerweile sogar schon Internetplattformen eingerichtet, die über jeden verschwundenen Link Buch führen. Auch dass Google plötzlich willkürlich Suchergebnisse löschen würde, sei laut Aussage der Experten nicht wahrscheinlich, da dies umgehend negative Auswirkungen auf das Unternehmen hätte.

 

Oberstes Bild: © F. JIMENEZ MECA – Shutterstock.com

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