Betty Anne Waters – das Leben schrieb das Drehbuch
von Olaf Hoffmann
„Betty Anne Waters“ präsentiert die Geschichte einer Geschwisterliebe, die weit über das Aufopfern für die Familie hinausgeht. Hier werden nicht die typisch amerikanischen Klischees ausgereizt, sondern eine wahre Geschichte filmisch verpackt als Hommage an Gerechtigkeit und Kampf um eigene Ziele schauspielerisch perfekt umgesetzt.
Wer einmal lügt …
… dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht. Noch schlimmer, wenn sich heranwachsende Geschwister immer wieder in Eigentumsdelikte verstricken, um so der Tristesse des wenig liebevollen Elternhauses irgendwie ein wenig zu entkommen. Was als Sammlung von Diebstählen und Einbrüchen beginnt, findet seinen vorerst dramatischen Endpunkt, als Kenny Waters wegen Mordes endgültig im Gefängnis verschwindet. Auch wenn Kenny gebetsmühlenhaft seine Unschuld beteuert, bleibt nur seine Schwester Betty Anne, die allerdings keine Möglichkeiten hat, Kennys Unschuld zu beweisen, auf seiner Seite.
Kenny indes hält es in den räumlich und moralisch begrenzten Freiheiten der Haft nicht aus und versucht, sich das Leben zu nehmen. Jetzt ist es an Betty Anne, dem Bruder einen Weg aus der Misere zu weisen. Sie bittet ihn um eine gute Portion Geduld und darum, keinen weiteren Selbstmordversuch zu unternehmen. Im Gegenzug bleibt sie stets an seiner Seite und will die Unschuld des Bruders beweisen.
Selbst mit zwei Kindern, arbeitslos und ohne vernünftigen Schulabschluss sieht Betty Anne nur eine Möglichkeit, ihrem Bruder aus der unverschuldeten Misere zu helfen. Sie muss selbst Teil des Rechtssystems werden, das Kenny in die Haft und damit in den drohenden seelischen Untergang gebracht hat. Neben den Bemühungen um die eigenen Kinder holt die von Hilary Swank bezaubernd gespielte Betty Anne den Abschluss der Highschool nach und beginnt dann ein Jura-Studium. Schon dabei erfährt sie von der neuartigen DNS-Beweismöglichkeit, die auch für Kennys Unschuld nützlich sein dürfte.
Zwar kann Betty Anne erreichen, dass der Bruder nicht mehr des Mordes, aber doch noch der Mittäterschaft für schuldig erklärt wird. Der Kampf um die Gerechtigkeit ist erst beendet, als die junge Anwältin Betty Anne Waters den Meineid der Ehefrau des Bruders nachweisen kann. Für den gesorgt hat dazumal der Druck der Staatsanwältin Nancy Taylor, die sich jetzt selbst der Unrichtigkeit ihrer Verdächtigungen und einer mangelhaften Strafverfolgung gegenübersieht. Letztlich kommt Kenny Waters frei – seine Schwester hat in einem zehrenden jahrelangen Kampf um Gerechtigkeit und in der Auseinandersetzung mit einem scheinbar blinden Rechtssystem die Unschuld ihres Bruders beweisen können.
Realität stand Pate
Was hier zunächst doch ein wenig an die Hollywood-Klischees einschlägiger Gerichtsfilme erinnert, hat doch einen sehr realen Hintergrund. Regisseur Tony Goldwyn und Drehbuchautorin Pamela Grey haben aus einem authentischen Fall einen packenden Film gemacht, der niemals zu gefühlsrührendem oder moralisch überfrachtetem Speckansatz neigt, dadurch aber oftmals auch doch etwas trocken wirkt. Wer hier den reinen Nervenkitzel erwartet, ist im Epos um Geschwisterliebe und den Hang zur Gerechtigkeit doch falsch aufgehoben.
Wahr am Sujet sind die verstümmelte Leiche, die zwei Jahre später folgende Verurteilung Kenny Waters’ und letztlich der unglaubliche Einsatz seiner Schwester Betty Anne Waters, die als Hausfrau, Mutter, Jobberin und letztlich Anwältin für die Rehabilitation ihres zu Unrecht verurteilten und eingesperrten Bruders kämpft. Die Recherche im Waters-Fall hat Regisseur und Drehbuchautorin zu einem Film geführt, der nicht nur mit der Anfälligkeit des Rechtssystems ins Gericht geht.
Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit als unerschöpfliches Thema
Was, wenn die Wahrheit der Lüge weicht, Wahrhaftigkeit durch staatsanwaltlichen Druck unmöglich, Gerechtigkeit zur Farce wird? Dann braucht es wohl solche Lichtgestalten wie Betty Anne Waters, die ihr eigenes, ohnehin schon recht anstrengendes Leben ganz in den Dienst einer Wahrheit stellen, die für sie selbst trotz massiver Zweifel längst erwiesen scheint. Wenn aber der Normalbürger im System der richterlichen Gerechtigkeit eines selbstherrlichen Rechtssystems nicht mehr gehört und verstanden wird, bleibt nur der Umweg über den eigenen Platz in diesem System.
Leider gilt das nicht nur im Fall Waters, der in den 1980er- und 1990er-Jahren auch die Öffentlichkeit in den USA bewegt hat. Bis heute werden immer wieder Justizirrtümer aufgedeckt, die manchmal zu spät das Leben verurteilter Nichtstraftäter hätten anders gestalten können. Während bei „Betty Anne Waters“ letztlich der Film erwartungsgemäss im Happy End endet, geht das Leben doch immer wieder gern andere Wege.
Da lohnt es sich schon, nicht nur einem Bruder zuliebe die Gerechtigkeit genauer zu hinterfragen und nötigenfalls das System der bürgerlichen Rechtsprechung auch einmal mehr infrage zu stellen. Letztlich ist es immer nur die Frage nach der Wahrhaftigkeit, die im Rechtssystem über kurz oder lang für Veränderungen sorgen kann. Auch das darf ein Resümee aus „Betty Anne Waters“ sein.
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