Wider die Norm – Für mehr Freiheit und Umweltschutz bei Nahrungsmitteln

Betriebe, die bei der Herstellung und dem Vertrieb von Produkten geltende Richtlinien mit Füssen treten, sind beim Kunden schnell verschrien. Handelt es sich um Lebensmittel, reagiert die Schweizer Bevölkerung besonders sensibel. Nichtsdestotrotz häufen sich ausgerechnet in diesem Bereich in letzter Zeit Abweichungen von den EU-Normen.

Weder gesundheitsschädigende Beimischungen noch angetaute Kühlware noch sonstige beängstigende Vergehen sind hier jedoch der Stein des Anstosses. Vielmehr ist die Rede von ganz und gar ungefährlichen, natürlichen Verformungen von Gemüse und Obstsorten. Mehr und mehr finden jedoch auch diese, von der Natur benachteiligten Früchte neben der wohlgeformten Ware Einzug in die Läden: krumme Salatgurken, zu klein oder zu gross geratene Kartoffeln, Birnen, Bananen und vieles mehr.

Dieses Verhalten ist darauf zurückzuführen, dass viele Betreiber von Obst- und Gemüseläden verhindern wollen, dass die nicht richtlinienkonformen Früchte in den Produktionsbetrieben selektiert werden, um dann über weite Strecken zu Entsorgungsstationen oder Nutzviehbetrieben transportiert zu werden. Aus Sicht des Umweltschutzes kann dieses Vorgehen keine sinnvolle Alternative sein.

Da die verformten Gemüse- und Obstsorten weder schlechter schmecken noch sich in Sachen Qualität von den form-und normschönen Exemplaren unterscheiden, gehen die Umwelt- und Naturschützer ob der sinnlosen Vernichtungswut auf die Barrikaden. Sie versuchen die Einzelhändler davon zu überzeugen, naturbelassene Früchte in ihren Geschäften zu führen. Aber nicht nur die EU-Staaten möchten sie mit diesem Aufbegehren erreichen, sondern auch alle anderen Nationen, die sich am internationalen Warenaustausch beteiligen. Diesen allen empfehlen sie, nicht mehr länger nur genormtes Obst und Gemüse zu vertreiben. Auch Länder wie die Schweiz und Liechtenstein sind damit angesprochen.

Macht man sich bewusst, seit wie viel Jahren landwirtschaftliche Produkte mittlerweile den Richtlinien entsprechen müssen, um überhaupt verkauft werden zu dürfen, muss es einen nicht wundern, das bei einer Befragung von Schweizer Kunden in Discountern und Handelsketten herauskam, das verformte Lebensmittel von vielen für gesundheitsschädlich gehalten werden. Die beim Endkunden zu leistende Überzeugungsarbeit erweist sich daher also weit aufwendiger als bei den Verkäufern der naturbelassenen Ware.

Auch in der Schweiz findet man nur noch selten Produkte in der Ladentheke vor, deren Äusseres nicht den EU-Richtlinien entspricht. Selbst Lebensmittel in Reformhäusern und Bioläden sind meist optisch einwandfrei, da auch der zur Zertifizierung überwachte Anbau sich den strengen Vorgaben unterwirft. Und selbst im heimischen Garten, in dem alles völlig unbehelligt von jeglichen Staatsnormen gedeihen kann, weicht die Ernte kaum von den im Handel erhältlichen Normwaren ab. Man fragt sich warum? Der Grund liegt auf der Hand: Am Beginn der Aufzucht steht der Erwerb von Saatgut und das unterliegt inzwischen ebenfalls den strengen Vorgaben.


Auch in der Schweiz ist man auf die Einhaltung der von der EU festgelegten Obst- und Gemüserichtline bedacht. (Bild: Monticello / Shutterstock.com)
Auch in der Schweiz ist man auf die Einhaltung der von der EU festgelegten Obst- und Gemüserichtline bedacht. (Bild: Monticello / Shutterstock.com)


Da die meisten Kunden aus der Schweiz jedoch immer noch glauben, das die der Norm entsprechenden Früchte mit dem angenehmeren Erscheinungsbild gesünder sind und besser schmecken, greifen sie eher zur geraden Gurke und eben nicht zum befleckten Apfel – die leicht deformierte Sorte bleibt also im Regal liegen. Doch genau dieses Kaufverhalten hat zur Folge, dass trotz der Bemühungen der Naturschützer, die naturbelassene Ware in den Handel zu bringen, diese nicht gegessen, sondern, wie bereits geschildert, vernichtet oder zu Tierfutter weiterverarbeitet werden muss.

Um dieser Situation entgegenzuwirken, leisten die Verkäufer Überzeugungsarbeit. Sie erklären den Kunden, dass die verformte Ware keinerlei Geschmacks- und Qualitätsunterschiede aufweist. Manch ein Händler erhebt deformierte Obst- und Gemüsesorten sogar zur Spezialität des Hauses und kreiert besondere, manchmal sogar lustige, auf den Naturwuchs bezogene Namen. Ein weitere gute Möglichkeit, das nicht normgerechte Obst und Gemüse besser zu verkaufen, ist die Absenkung des Verkaufspreises, wenn es nötig ist, bis nahezu zum Einstandspreis des Händlers.

Fragt man die Obst- und Gemüseverkäufer, warum sie freiwillig auf Erträge verzichten, lautet die Antwort vielfach, „weil sie selbst für die Sache brennen“. Der Vertrieb verformter Früchte bedeute Widerstand zu leisten gegen eine verfehlte Staatsaufsicht und übertriebene Regulierungswut. Darüber hinaus möchten die Händler Menschen mit niedrigem Einkommen die Möglichkeit bieten, sich mit gesunden, naturbelassenen Produkten zu ernähren. Gleichzeitig, so geben sie an, schone der Verkauf dieser Produkte die Umwelt.

Nahezu die gleichen Gründe führen Schweizer Unternehmen an, die sich auf die Vermarktung von „älteren Produkten“ spezialisiert haben. Eine beachtliche Zahl von Geschäften, insbesondere Bäckereien, verkaufen Konditorei- und Backwaren vom Vortag zu niedrigen Preisen. Wie die nicht normgerechten Früchte, haben diese Kuchen und Brote weder qualitative noch geschmackliche Defizite. Hier wird lediglich dem inzwischen normal gewordenen Anspruch, täglich frische Ware zu erhalten, entgegengewirkt. Vor allem in den Ballungszentren der Schweiz verzeichnen Unternehmen, die sich dieser Philosophie verschrieben haben, einen enormen Zuwachs. Einige Anbieter betreiben sogar mehrere Filialen, weil die Kundschaft stetig wächst.

Obwohl die Bemühungen, sich gegen die Richtlinien zu sträuben, naturgemäss verschiedene Obst- und Gemüsesorten einschliessen, wird in der Regel der Apfel an erster Stelle als Beispiel herangezogen. In der Historie hat der Apfel bei Streitigkeiten immer wieder einen grossen Stellenwert eingenommen. Von der im Alten Testament geschilderten berühmt-berüchtigten Vertreibung aus dem Paradies bis hin zu Schillers 1803/04 entstandenem Drama begleitet uns der Apfel nunmehr über Jahrhunderte als Sinnbild für Liebe, Kraft, Versuchung und Vertreibung, dessen Wirkung – sprichwörtlich – die Geister scheidet.

Es bleibt abzuwarten, ob der Apfel auch im Falle der „Pro-verformter-Früchte-Frage“ einen Stellenwert einnehmen wird, dass ihn unsere Kinder als Symbol dieser Bewegung in Erinnerung behalten.

 

Oberstes Bild: © Monticello – Shutterstock.com

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