Bedrohen gebietsfremde Tiere die heimische Artenvielfalt?
von Andrea Durst
Von einer biologischen Invasion ist oft zu hören, wenn es um eingeschleppte oder zugewanderte Tierarten geht. Aber ist das wirklich so? Und waren unsere „einheimischen“ Tiere schon immer hier?
Ob Rostgans, asiatischer Marienkäfer oder Schmuckschildkröte: All diese Tiere stammen aus anderen Regionen der Welt, wurden in die Schweiz eingeschleppt und kommen hier bestens zurecht.
Sie vermehren sich, sind den alteingesessenen Tieren zum Teil überlegen und machen ihnen Konkurrenz. Manche breiten sich derart rasant aus, dass einheimische Arten zurückgedrängt werden. So vertreiben Rostgänse andere Wasservögel von ihren Brutstätten und gewinnen die meisten Streitereien um Nahrung.
Woher kommen die neuen Tiere?
Wissenschaftler bezeichnen bereits etablierte Zuwanderer als „Neozoen“. Das Wort stammt aus dem Griechischen und heisst eigentlich nichts anderes als „neue Lebewesen“. Es hat sich als zoologischer Fachbegriff durchgesetzt für Tiere, die sich in Regionen niederlassen, die nicht zu ihrer ursprünglichen Heimat zählen. Diese Tiere gelten als überaus anpassungsfähig und weisen hohe Fortpflanzungsraten auf.
Ein grosser Teil der Zuwanderer wird unabsichtlich eingeschleppt, durch den weltweiten Handel und Güterverkehr mit Flugzeugen, Containerschiffen, Strassen- oder Schienenfahrzeugen. Vor allem kleine Insekten können sich auf diese Weise schnell neue Gebiete erschliessen.
Tierparks und Zoogeschäfte führen exotische Tiere bewusst ein, als Attraktion für Besucher oder für den Verkauf an Privatleute. Nicht selten brechen Tiere aus ihren Gehegen oder Käfigen aus. Kommen sie in der Folgezeit ohne menschliche Hilfe zurecht und finden genug Nahrung, haben sie gute Chancen, sich in der neuen Region zu etablieren.
Eine Variante der Haltung in Gefangenschaft ist das absichtliche Aussetzen von Tieren, die nicht mehr erwünscht sind: weil sie grösser wurden als erwartet oder aus anderen Gründen nicht mehr in das Leben ihres Halters passen.
Vor allem Goldfische und Schmuckschildkröten landen massenhaft in Seen und Teichen. Damit stehlen sich die Halter nicht nur feige aus ihrer Verantwortung gegenüber dem einst gewollten Tier. Sie bringen damit die Tierwelt in dem natürlichen Gewässer aus der Balance: Goldfische sind widerstandsfähige Allesfresser, sie kommen in jedem Süssgewässer zurecht und tolerieren selbst Brackwasser. Schnell vermehren sie sich und fressen täglich grosse Mengen an Pflanzen und Kleinstlebewesen, sodass das Nahrungsangebot für die langsameren Amphibien und Fische knapp wird.
Schmuckschildkröten können 30 Zentimeter lang und 40 Jahre alt werden. Sie sind ebenfalls Allesfresser, bevorzugen jedoch tierische Nahrung und sind nicht wählerisch: Alles was kleiner ist als sie selbst, wird gefressen. In der Schweiz gab es bislang noch keine Berichte über Schmuckschildkröten, die sich im Freiland vermehren, da es in den meisten Jahren zu kalt ist. Im extrem heissen Sommer des Jahres 2003 schlüpften aber in Deutschland nachweislich Rotwangen-Schmuckschildkröten in freier Natur. Um das Aussetzen der Tiere einzudämmen, gibt es in der Schweiz mehrere Auffangstationen, bei denen überforderte Halter die Schildkröten abgeben können.
Neben diesen Fällen gelangen manche Tiere ganz „legal“ in neue Gebiete, etwa als Schädlingsbekämpfer. Ein Beispiel dafür ist eine chinesische Schlupfwespenart. Diese haben Biologen in Frankreich und Italien gezielt eingeführt, um Kastaniengallwespen zu bekämpfen, die massive Schäden an den Bäumen anrichten. Die neue Art erledigt ihren Job so effizient, dass sich die Kastanienwälder langsam erholen und die Erträge wieder höher ausfallen.
Gutes Tier, böses Tier?
Sobald gebietsfremde Tiere, vermeintlich oder tatsächlich, einheimische Arten zurückdrängen, nennt man sie gar „invasive Neozoen“. Überhaupt scheint die Tonalität in dieser Sache oft wie aus dem Wörterbuch der menschlichen Kriegsführung entnommen: Eine biologische Invasion sei auf dem Vormarsch und bedrohe die heimische Artenvielfalt, einer Apokalypse gleich. Man müsse die bösen Einwanderer mit allen Mitteln bekämpfen, zurückdrängen, ausrotten, auslöschen. Und wirklich fahren manche Behörden und Naturschutzverbände schwere Geschütze auf: Das Repertoire reicht vom Gewehr über Feuer bis hin zu Gift. Wobei das letzte Mittel besonders absurd erscheint, da die Pestizide ja auch diejenigen Tiere vernichten, zu deren angeblichen Schutz sie eingesetzt werden.
Nun besteht die Welt bekanntermassen nicht nur aus Schwarz und Weiss und lässt sich ebenso wenig in gut oder böse einteilen – und auch nicht in fremd oder heimisch. Bei manchen Fachleuten habe ich den Eindruck, dass sie ihre menschlichen Emotionen direkt übertragen und Tiere in zwei Klassen einteilen: böse, hinterhältig, schlecht sind die fremden Tiere; gut, wertvoll und nützlich die alteingesessenen. Das gilt übrigens in gleicher Weise für gebietsfremde Pflanzen, die Neophyten.
Glücklicherweise gibt es auch Biologen, die die Sache mit Vernunft betrachten. Der Biologe Josef Reichholf hat hierzu im GEO-Magazin einen grossartigen Artikel veröffentlicht, der auch für Laien gut verständlich ist und sich auf Fakten stützt. Und die ergeben ein wesentlich differenzierteres Bild. („Was heißt hier fremd?“, GEO-Magazin 10/2011 und geo.de)
Wie fremd ist fremd?
Was ist ein Schweizer, dessen Vorfahren vor hunderten von Jahren aus einem anderen Land eingewandert sind? Selbstverständlich ein Schweizer. Genauso ist es bei den Franzosen, Deutschen oder Italienern. Und bei den Tieren? Wie lange muss sich ein Tier in einer Region niedergelassen haben, damit es als „heimisch“ gilt?
In dieser Frage konnten sich die Experten lange nicht einigen. Sie kamen schliesslich auf eine simple Lösung, die von den meisten akzeptiert wurde: Als Schnittstelle gilt seither das Jahr 1492, in dem Kolumbus Amerika entdeckte. Dies soll den Beginn des intensiven Reisens und Handels symbolisieren, was entscheidend zur Ausbreitung vieler Tierarten in andere Länder beitrug.
Auch wenn ich nachvollziehen kann, dass ein gemeinsamer Nenner für weitere Forschungen hilfreich und wichtig ist: Für mich klingt diese Lösung abwegig, weil sie den Fehler der Einteilung in „fremd“ und „nicht fremd“ für jeden offensichtlich macht. Nach dieser Sichtweise wäre ein Tier, das sich in den 1480er Jahren in einem fremden Gebiet etablieren konnte, einheimisch. Und eine Tierart, die nur zehn Jahre später folgte, fremd.
Denkt man genau darüber nach, ist fast jede Spezies irgendwann einmal in bislang fremde Gebiete eingewandert oder durch Zufall dorthin gelangt. Ein stetiger Wechsel, der in der Natur völlig normal ist, durch die Industrialisierung aber natürlich deutlich schneller vor sich geht.
Ohne Zweifel bedeutet die Ausbreitung neuer Arten für manches einheimische Tier eine Katastrophe. Ebenso zweifellos bieten gebietsfremde Tiere auch Vorteile: So hat der gefährdete Fischotter im fischarmen Bayerischen Wald nur deshalb überlebt, weil die Bisamratte aus Nordamerika kam und sich ihm als neues Beutetier anbot, wenn auch nicht ganz freiwillig. Und unseren Honigbienen geht es vor allem aus einem Grund in der Stadt vergleichsweise gut: In unseren Gärten gedeihen zahllose blühende Pflanzen, die genügend Nektar und Pollen produzieren und zum Grossteil aus fernen Ländern stammen.
Wie wirken sich die gebietsfremden Tiere nun auf die heimische Artenvielfalt aus? Die kurze Antwort darauf lautet: Man weiss es nicht. Für die lange oder gar die korrekte Antwort fehlt mir die fachliche Kompetenz. Biologen, Zoologen, Umweltschützer, Tierschützer, Landwirte und andere Gruppen diskutieren darüber seit vielen Jahrzehnten. Dabei spielen natürlich immer auch die eigenen Interessen eine grosse Rolle: Wird die eingeschleppte Art zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt, ist sie nützlich und willkommen. Macht das amerikanische Grauhörnchen aber unseren niedlichen rotbraunen Eichhörnchen das Futter oder den Kobel streitig, bringt es alle gegen sich auf. Dabei handelt das Grauhörnchen nur so, wie es jede Spezies einschliesslich des Menschen tut: Es versucht zu überleben und seine Gene zu verbreiten.
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