"Alphabet" - wenn ein Film eine schulpädagogische Diskussion entfacht
von Olaf Hoffmann
„Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir!“, das hat schon Seneca zu Beginn der christlichen Zeitrechnung gewusst. Vergessen indes haben es die Schulpolitiker, die heute bestimmen, was Schule ausmacht.
Ausgerichtet auf sogenannte Kernkompetenzen und spezielle Fachkompetenzen ist heute der Alltag der Heranwachsenden dermassen verschult, dass das Leben an sich oftmals auf der Strecke bleibt. Tests, Klausuren und Wettbewerb bestimmen abseits jeglichen Lebens den Schulalltag.
Darüber hinaus hat das System Schule auch mit dem Schritt zum Lehrplan 21 längst sein pädagogisches Konzept verloren. Lehrer sind heute mehr denn je eben nur noch Lehrende, weniger Pädagogen, geschweige denn menschliche Vorbilder. Eine verschulte und nur auf Leistung getrimmte Kindheit führt letztlich dazu, dass wir langweilige, wenig schöpferische Kopfmenschen heranziehen, die dann als Erwachsene kaum noch ein Gewinn für eine entwicklungsfähige Gesellschaft sein können. Bedenkliches, was zum Teil auch aus den Schulen selbst und aus den Köpfen verantwortlicher Bildungspolitiker kommt. Bislang allerdings ohne den wirklichen Drang nach Veränderung.
„Alphabet“ schiebt an
Auslöser für die neuerlichen Diskussionen um eine kindgerechte und entwicklungsfördernde Schule ist „Alphabet“. Der nunmehr auch in der Schweiz angelaufene Film des Österreichers Erwin Wagenhofer spiegelt dokumentarisch ein Schulsystem, in dem nur Platz für Leistung, Wettbewerb und Noten ist, kein Platz aber für Persönlichkeit und Entwicklung – so, wie das derzeit auch an chinesischen Schulen gehandhabt wird und zu der weltweit höchsten Selbstmordrate unter Schülern führt.
Stoisches Lernen ohne Ambitionen, immer mehr und dabei immer weniger wichtige Kompetenzen werden abgefordert, die Kernkompetenz, Mensch zu sein, bleibt dabei auf der Strecke. Nirgendwo auf der Welt schlucken Schüler soviel Antidepressiva und Leistungsstimulanzien wie in China. Noch nicht. Das Schweizer System ist auf dem besten Weg, auch zu einer Schule ohne Sinn und Verstand zu werden. Das zumindest kritisieren Lehrerverbände und vereinzelt auch Politiker, die die Schule lieber als eine Einheit von Bildung, Erziehung und Leben sehen, als die doch vorherrschenden reinen Bildungsanstalten es vermuten lassen.
Gesundes Schöpfertum bleibt auf der Strecke
Besonders schwer haben es Kinder, die wegen ihrer individuellen Persönlichkeitsausstattung als auffällig oder als junge Menschen mit abweichendem Verhalten gelten. Darunter befinden sich gelangweilte Hochbegabte genauso wie überforderte Schüler in Kantonsschulen und Gymnasien. Kaum noch die Person des Schülers, sondern vielmehr sein abrufbarer und reproduzierbarer Wissensstand sind Kriterien für den Erfolg im Bildungssystem und damit letztlich auch in der Gesellschaft.
Dabei sind es besonders diese Abweichler, die später mit neuen Ideen statt mit Althergebrachtem glänzen könnten. Wenn man sie nur liesse! Hingegen ist das Schulsystem zur reinen Bildungsvermittlung geschrumpft, die so gar nicht mehr am Leben hängt. Bildungs– und Lehrpläne werden immer aufgeblähter und beschäftigen sich teils schon mit beruflichem Spezialwissen, das Schüler einengt und oftmals vom kindlichen Entdecker- und Wissensdrang eher abschreckt. Damit bleibt ein gesundes Schöpfertum auf der Strecke, das unsere Gesellschaft auch im 21. Jahrhundert so dringend braucht.
Schule wieder für das Leben öffnen
Das Leben ist vielseitig, selten eine Einbahnstrasse und vor allem individuell. In diese Vielseitigkeit passt ein einengendes Bildungssystem, dass sich nur an Leistung und Zensuren bemisst kaum noch hinein. Erfahrene Lehrer, die ihr Leitbild als Pädagoge nicht aufgegeben haben, plädieren für eine offenere Schule. Offen für Abweichler, offen für individuelle Lernmethodiken und vor allem offen für das Leben selbst. Mit diesen Vorstellungen von einer neuen Pädagogik stossen diese Lehrer an die Grenzen eines Systems, das zunehmend verknöcherter und lebensfremder wird.
Gern nehmen Schulen die Eltern in die Pflicht, wenn es darum geht, aus auffälligen Schülern brave Leistungserbringer zu machen. Allerdings vergisst die Schule dabei, dass sie einen Bildungs- UND Erziehungsauftrag hat, der sich allein schon aus den überlieferten Formen der Schulbildung seit Seneca ergibt. Wer in der Schule für das Leben lernen soll, muss dieses Leben dort auch spüren dürfen. Ob ein zunehmender Leistungsdruck, lebensfremde Lernformen und diktatorische Disziplinierungen dafür geeignet sind, darf und muss in Frage gestellt werden.
Finger auf die Wunden legen
Der Dokumentarfilm „Alphabet“ legt die Finder auf die Wunden und zeigt auch die Grenzen des Schweizer Schul- und Bildungssystems auf. Wer diesen Film nur oberflächlich und mit dem selbstgefälligen Schulterklopfen des geübten Bildungsvermittlers betrachtet wird nicht erkennen, worum es wirklich geht. Es geht letztlich um eine Bildung, die Kinder und Jugendliche wirklich vorwärtsbringt und zum gelebten Bestandteil einer lebenswerten Gesellschaft wird. Reine Leistungserbringer sind in einer modernen Gesellschaft ebensowenig gefragt, wie die ewigen JA-Sager, die in der Schule verlernt haben, eigene Frage zu stellen und darauf auch eigene Antworten zu finden.
Wenn Schule wieder zum Motor gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen werden soll, gehört dazu mehr,als nur eine reine Wissensvermittlung ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit des Einzelnen. Hier legen auch wir gern den Finger auf die Wunde und drücken gern solange fest zu, bis es weh tut. Denn manchmal sind es erst die gespürten und nicht die erahnten Schmerzen, die zur wirklichen Veränderung drängen. Solche Veränderungen lohnen sich immer dann, wenn wir eine Schule wollen, die eigenständig denkende, allgemein gut gebildete und vielseitig entwicklungsfähige Individuen in die Wirtschaft bringt.
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