Die Reformation: 4 Bereiche, in denen sie unser Leben bis heute prägt
von Alin Cucu
Am 31. Oktober feiern wir – ? Natürlich Halloween, den irisch-amerikanischen Gruselimport, der uns ausser mediokren Splatterfilmen nur noch einen Umsatzschub für Hersteller von Party-Artikeln gebracht hat. Wie, am gleichen Tag jährt sich der Beginn der Reformation? Gähn, staubiger Reli-Stoff, wen interessiert das…
Tatsächlich können sich viele Zeitgenossen nicht vorstellen, wo wir ohne die Reformation heute wären. Wesentliche Errungenschaften unserer Gesellschaft fussen auf ihr. Kommen Sie mit auf eine Entdeckungsreise, die Sie garantiert in Staunen versetzen wird!
1. Universaler Zugang zu Literatur – Bibelübersetzung und Buchdruck
„Sola scriptura“ – dieser Wahlspruch vereinte alle Reformatoren von Anfang an. „Allein die Schrift“, und nicht die Autorität des Papstes und des Klerus sollten bestimmen, wie man als Christ zu leben hat. Das Problem dabei: Vor Luther, Zwingli und Calvin existierte als einzige Bibelübersetzung die lateinische. Für den Normalbürger war die Heilige Schrift also ein Buch mit sieben Siegeln. Angetrieben durch ihre brennende Überzeugung, die Bibel sei Gottes Wort, waren die meisten Reformatoren auch Übersetzer, allen voran Luther und Zwingli. Dem Schweizer Reformator gelang denn auch mit der Zürcher Bibel die älteste protestantische Bibelübersetzung ins Deutsche.
Nächstes Problem: Wie bekommt man die Bibel unters Volk? Zum einen durch mündliche Verkündigung – Zwingli etwa praktizierte einen extensiven Predigtdienst – zum anderen jedoch durch den gerade erst erfundenen Buchdruck. Dessen Erfinder Johannes Gutenberg starb zwar 50 Jahre bevor Luther seine berühmten 95 Thesen an das Wittenberger Kirchengebäude nagelte; doch Buchdruck und Reformation waren eng miteinander verwoben, da die Lutherbibel der technischen Innovation zum Durchbruch und umgekehrt verhalf. Der Buchdruck wiederum wurde zur Grundlage der Wissensgesellschaft, in der jedermann leichten Zugang zu Informationen hat
2. Die Allmacht der Katholischen Kirche wurde gebrochen
„Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!“ Mit diesen Worten soll der berühmte Ablasseintreiber Johann Tetzel seine Zuhörer zum reumütigen Zahlen stimuliert haben. Tatsache ist in jedem Fall, dass die Menschen im Europa des frühen 16. Jahrhunderts unfrei waren. Vereinfacht gesagt gehörten ihre Leiber den Fürste und Königen, ihre Seelen jedoch der Katholischen Kirche. Diese konnte durch ihre Theologie der Errettung durch Werke die Menschen an der kurzen Leine halten. Denn wer möchte schon die Hölle kommen, oder dass seine verstorbene Mutter lange im Fegefeuer leidet? Dass moralisch niemand perfekt ist, ist eine Binsenweisheit. Nach katholischer Auffassung muss die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit durch Bindung an die Kirche sowie gewisse Leistungen – darunter die Ablasszahlungen – geschlossen werden.
Sind Sie froh, nicht mehr unter diesem Druck zu leben bzw. ein anderes Gottesbild zu haben? Das haben Sie nicht den Aufklärern des 18. oder Religionskritikern des 19. Jahrhunderts zu verdanken, sondern den Reformatoren. Sie stellten aufgrund ihres eingehenden Bibelstudiums klar: „Sola fidae“ – nur durch Glauben kommt man zu Gott, und zwar weil Jesus Christus durch sein vollbrachtes Werk am Kreuz die Lücke zwischen Gott und Mensch geschlossen hat. „Sola gratia“, nur die Gnade Gottes ist es, die Menschen in den Himmel bringt und schon auf Erden erlöst. Eine wahrhaft befreiende Botschaft, die gleichzeitig Priester und Päpste als Mittelsmänner obsolet machte. Die Reformatoren gaben letztlich den Menschen ihre religiöse Mündigkeit zurück.
3. Echte Demokratie wurde möglich
Demokratie ist eine Erfindung der Griechen, denken Sie? Ist sie auch, aber nicht in der Form, wie wir sie heute haben. Denn im Alten Griechenland waren eben nicht alle Menschen am demokratischen Entscheidungsprozess beteiligt. Dort gab es eine klare Zwei-Klassen-Gesellschaft.
Anders bei den Reformatoren. Weit davon entfernt, primär politische Ziele zu haben, bildete ihr Einfluss den Nährboden für modernen demokratischen Diskurs. Ein wichtiger Bestandteil der reformatorischen Rückkehr zur Bibel war nämlich die Betonung der Würde des Menschen: Der Mensch sei wertvoll, weil er ein Geschöpf Gottes ist. In Kombination mit der Autoritätsverlagerung hin zur Bibel ergaben sich hieraus weitreichende Mitgestaltungsmöglichkeiten der Laien in der Kirche – „allgemeines Priestertum“ ist das Schlagwort, das v.a. Luther gebrauchte. Auch die Diskursfähigkeit erlebte durch die Reformation eine Blütezeit in Europa. Konnten bis dato nur Kleriker an theologischen Diskussionen teilnehmen, stand dies nun im Prinzip jedem offen, der sich auf die Bibel als gemeinsame Richtschnur berief.
Was dieses Denken ausmacht, offenbart vielleicht ein Vergleich zweier ungleicher Revolutionen. Die im protestantisch geprägten England von 1688 verlief praktisch unblutig. Hundert Jahre später richteten Jakobiner und andere revolutionäre Kräfte im reformatorisch unerreichten Frankreich ein Blutbad an. Auch in modernen Verfassungen finden wir den Gedanken einer unveräusserlichen Grundidee, der sich alle Gesetze unterordnen müssen. In diesem Fall ist es die Würde des Menschen, deren Ursprung sich aber leicht mit der Reformation in Verbindung bringen lässt.
4. Die Künste blühten auf
Oft wird den Reformatoren vorgeworfen, sie seinen kunstfeindlich gewesen. Nichts kann der Wahrheit ferner sein. Das Zeitalter der Reformation erlebte einen regelrechten Kunstboom. Johann Sebastian Bach, das ewige Universalgenie der Musik, war protestantischer Christ und schrieb seine Werke „Deo Soli Gloria“ – „Gott allein zur Ehre“. Der bekannte Maler Lucas Cranach war ein guter Freund Martin Luthers, aus seiner Hand stammt auch das bekannteste Bildnis des berühmtesten Reformators. Oder nehmen wir Rembrandt, der sich selbst als Soldaten porträtierte, welcher das Kreuz Christi aufrichtet – seine ureigenste Schuld als Sünder vor Gott darstellend, aber auch Gottes Heilmittel dagegen.
Natürlich hatten die Reformatoren auch ihre Schattenseiten. Luther sprach sich politisch für die Bauernkriege und gegen Juden aus. Zwingli wollte das Evangelium mit dem Schwert in die Zentralschweiz tragen und Calvin eine strenge Theokratie in der Westschweiz aufrichten. Damit handelten sie jedoch entgegen und nicht konform ihrer Überzeugungen. Und man darf nicht vergessen: Auch sie waren nur fehlbare Menschen. Die Errungenschaften der Reformation jedoch wegen menschlicher Makel vom Tisch zu fegen, hiesse das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Reformation hat uns weit mehr gebracht als das hohle Halloween-Spektakel es jemals kann.
Oberstes Bild: Luther-Denkmal vor dem Rathaus in Wittenberg. (© steschum – Fotolia.com)