Leisure Sickness: Was ist, wenn Freizeit krank macht?
von Janine El-Saghir
Geht es Ihnen auch so, dass Sie häufig in Ihrer Freizeit krank sind? Das Wochenende oder die Ferien nahen – und statt Entspannung machen sich Erschöpfung, Unwohlsein oder grippale Infekte breit? Seht wahrscheinlich gesteht sich Ihr Körper jetzt erst zu, eine Krankheitspause einzufordern.
Mit solchen Problemen sind Sie keineswegs allein. Viele Berufstätige leiden nicht nur in den Ferien, sondern auch am Wochenende plötzlich unter Schmerzen, Unwohlsein oder Infektionen. Wissenschaftler bezeichnen das Problem als Leisure Sickness oder Freizeiterkrankungen, die oft erst dann wieder verschwinden, wenn auch die freie Zeit vorbei ist. Oft steht eine Stressreaktion dahinter.
Perfektionisten leiden besonders oft an Leisure Sickness
Eine repräsentative deutsche Studie aus dem Jahr 2013 kam zum Ergebnis, dass jeder zehnte Arbeitnehmer in den Ferien regelmässig mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte. Gleichzeitig gaben 52 % der Befragten an, dass es ihnen schwer fiel, von der Arbeit abzuschalten. Andere Untersuchungen gehen davon aus, dass bis zu einem Drittel der Arbeitnehmer regelmässig unter einer Leisure Sickness leiden. Die Psychologen Adrian Vingerhoets und Maaike van Huijgevoort von der niederländischen Tilburg-Universität haben zu diesem Thema jetzt eine aktuelle Untersuchung vorgelegt, in der es um die Gründe dafür geht, warum Menschen in ihrer Freizeit häufig erschöpft oder ernsthaft krank sind.
Zwischen den Betroffenen und einer Kontrollgruppe, für die solche Probleme keine Rolle spielten, gab es einige signifikante Unterschiede. Beispielsweise berichteten die Krankheitsgeplagten häufiger von Stress und starken Belastungen im Job. Nach eigener Einschätzung hatten sie oft Schwierigkeiten, sich in Stresssituationen zu behaupten und sich ihrer Freizeit wirklich zu entspannen.
Die Forscher beschreiben die Angehörigen dieser Gruppe als Perfektionisten, deren Haltung im Beruf durch ein starkes Verantwortungsgefühl geprägt ist. Wenn sie sich Ruhe gönnen, resultieren aus Sicht der Wissenschaftler daraus oft Schuldgefühle, die sie daran hindern, ihre Freizeit zu geniessen. Möglicherweise nehmen sie bereits vorhandene Beschwerden auch erst in den Ferien wahr, nachdem sie diese im Berufsalltag verdrängt und ausgeblendet hatten.
Verzögerte Immunantwort durch Stress
Allerdings räumen die niederländischen Psychologen ein, dass sich mit ihren Hypothesen eine handfeste Erkältung in den Ferien nicht erklären lässt. Aus Sicht anderer Wissenschaftler kommt hier die Biochemie ins Spiel. Akuter ebenso wie chronischer Stress verändern das Immunsystem und setzen damit die Abwehrkräfte der Betroffenen herab. Professor Ronald Glaser, ein emeritierter Verhaltensmediziner der Ohio State University, hebt zwei grundlegende Effekte von Stress auf das Immunsystem hervor: Zum einen erhöht Stress die Anfälligkeit für Entzündungen, bakterielle und virale Infektionen sowie Allergien, zum anderen unterdrückt er die Antwort des Immunsystems. Stress kann unter anderem dazu führen, dass sich Wundheilungsprozesse verzögern oder nach einer Impfung weniger Antikörper bilden.
Der Trierer Mediziner und Stressforscher Hartmut Schächinger merkt hierzu an, dass das stressbedingte Unterdrücken der Immunantwort dazu führen kann, dass eine Infektion zunächst mehr oder weniger symptomlos bleibt – der Infekt bricht erst dann aus, wenn der Betroffene zur Ruhe kommt. Im Hinblick auf die Bewältigung der Stressauslöser ist eine solche Zeitverzögerung durchaus sinnvoll: Ursprünglich ist Stress eine Reaktion auf eine akute Gefahrensituation – alle Körperfunktionen, die dafür nicht essentiell wichtig sind, werden auf ein Minimum zurückgefahren. Laut Schächinger gilt dies auch für modernen Arbeitsstress und das Immunsystem. Die Immunantwort auf eine Infektion mit Erkältungskeimen erfolgt möglicherweise also erst dann, wenn der Stress vorbei ist und der Körper sich eine Krankheitspause leisten kann.
Häufige Krankheitsattacken in der Freizeit – ein Alarmsignal
Die niederländischen Forscher trafen unter ihren Probanden auch auf Menschen, die lange Jahre unter der Leisure Sickness litten, dieses Übel aber schliesslich überwinden konnten. Die Untersuchung förderte zutage, dass die meisten von ihnen irgendwann entweder ihr Leben oder ihre Einstellungen geändert hatten. Bei einigen brachte ein Jobwechsel den Umschwung, andere hatten damit aufgehört, sich ausschliesslich über ihre Arbeit zu definieren.
Adrian Vingerhoets war ursprünglich selbst betroffen – zu seiner Studie inspirierten ihn unter anderem Erfahrungsberichte von Freunden, Bekannten und Kollegen, die unter ähnlichen Beschwerden litten. Allen gemeinsam war der schleichende Beginn des Phänomens – in dieser Hinsicht ist die Leisure Sickness einem Burnout ähnlich. Für viele Stressgeplagte ist die fast vollständige Fixierung auf den Job normal. Ihr Körper hat sich an die Daueranspannung gewöhnt, eine Ruhepause ruft somit weiteren Stress hervor.
Aus vergleichbaren Gründen ereignen sich übrigens auch viele Herzinfarkte nicht während der Belastungsspitzen, sondern in den Ferien oder nachts. Die Krankheitsattacken in der Freizeit sind also durchaus ernst zu nehmen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass der Körper und auch die Psyche zu stark sowie zu einseitig beansprucht sind. Im ungünstigsten Fall und auf lange Sicht können daraus ernsthafte Erkrankungen resultieren, da nachhaltige Erholungsphasen nicht mehr möglich sind.
Ohne persönliche Freizeitkultur ist eine gesunde Work-Life-Balance nicht möglich
Der Lübecker Gesundheitspsychologe Dietmar Ohm beschreibt die Leisure Sickness so, dass die Daueranspannung, die ihr zugrunde liegt, nicht von aussen kommt, sondern die Betroffenen sie selbst erzeugen. Viele Einstellungen und Verhaltensweisen, die dazu führen, teilen sie mit Burnout-Kandidaten: Hohe Ansprüche an sich selbst, Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen oder Arbeitsaufgaben zu delegieren, den Wunsch, Verantwortung – aber auch Kontrolle – auszuüben. Gedanklich und in ihrem Alltag sind sie so stark auf den Beruf fixiert, dass sie ihre persönliche Freizeitkultur verloren oder nie entwickelt haben.
Um gesund zu bleiben, brauchen Menschen jedoch positiven Stress, aber auch die Möglichkeit, ihre Batterien wieder aufzuladen. Wenn letzteres nicht mehr Routine ist, sondern regelrecht erzwungen werden muss, ist eine gesunde Work-Life-Balance weder körperlich noch seelisch möglich. Laut Ohm spielt die tatsächliche Arbeitsbelastung dabei nur eine sekundäre Rolle – ausschlaggebend ist, wie damit umgegangen wird.
Massnahmen, die gegen die Leisure Sickness helfen
Hier – in der Entwicklung einer solchen persönlichen Freizeitkultur – liegt auch der Schlüssel, um die Leisure Sickness dauerhaft zu überwinden. Ein erster Schritt in diese Richtung ist, Freizeitaktivitäten bewusst zu planen und diese Planung auch im Alltag durchzuhalten. Damit darf durchaus auch „positiver Stress“ verbunden sein, der beispielsweise aus einer sportlichen Betätigung oder kreativen Aktivitäten resultiert. Auch Entspannungsphasen und völlig unverplante Zeit sollten jedoch einen festen Platz erhalten. Falls Sie Schwierigkeiten haben, sich zu entspannen, können Ihnen verschiedene Entspannungstechniken dabei helfen.
Ihre Ferienplanung sollte bereits am Arbeitsplatz beginnen. Die Erledigung welcher Arbeiten ist während Ihrer Abwesenheit wichtig? Welchen Teil davon können Sie an Kollegen delegieren? Haben Ihr Chef, Ihre Kollegen und Ihre Mitarbeiter alle Informationen, die sie brauchen? Die wichtigste Konsequenz aus einer solchen Vorbereitung ist, dass Sie während Ihrer Ferien wirklich nicht erreichbar sind. Sie checken keine Mails, das Mobiltelefon bleibt mindestens den grössten Teil des Tages ausgeschaltet. Auf diese kommunikative Auszeit bereiten Sie sich innerlich schon vor den Ferien vor, kündigen sie in der Firma an – und nehmen sich vor, sie auch wirklich einzuhalten.
Last but not least:
Freie Zeit und vor allem die Ferien gelten heute als so kostbar, dass darin „etwas Besonderes“ passieren muss – auch diese Erwartungen können Stress erzeugen. Natürlich erfordert eine Reise Planung – an Ihrem Ferienziel sollten Sie sich jedoch auch erlauben, einmal einfach in den Tag hinein zu leben. Oft kommen so die schönsten Reiseerlebnisse zustande, an die Sie sich noch jahrelang erinnern.
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