Funktionaler Katastrophenplan bei AKW-Unfall? Gibt es nicht!
Recherchen der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) zeigen, dass der Notfallschutz bei schweren Atomunfällen in der Schweiz nicht gewährleistet ist. Auch nach der Katastrophe in Fukushima wollte die Schweizer Atomaufsichtsbehörde ENSI alles so lassen, wie es ist. Damit ist die Sicherheit der Bevölkerung stark gefährdet, obwohl die Atomaufsicht etwas anderes behauptet. Eine Katastrophenplanung, die auf die Bedingungen schwerer Atomunfälle abgestimmt ist, gibt es nicht.
Bei der Planung des Bevölkerungsschutzes in der Umgebung der Atomkraftwerke seien „neu (…) auch Szenarien berücksichtigt, welche die radiologische Freisetzung von Fukushima überschreiten“, schreibt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI auf seiner Webpage. Das ist falsch.
Als Basis für die Planung des Notfallschutzes dient seit 2015 ein Unfallszenario, bei dem 10 Mal weniger Radioaktivität austritt als in Fukushima bzw. 100 Mal weniger als in Tschernobyl. Zudem tritt die radioaktive Wolke frühestens 6 Stunden nach Unfallbeginn aus und nicht bereits nach vier oder gar zwei Stunden, wie es in den schwereren Szenarien zu erwarten ist. Warum? Bis der Schweizer Bevölkerungsschutz einsatzfähig ist, benötigt er „eine Vorphase von sechs Stunden“, so das ENSI.
„Man hat also ein Umfallszenario genommen, bei dem der Notfallschutz gerade noch machbar erscheint. Der Unfall muss sich den Möglichkeiten anpassen, das ist absurd“, hält Peter Kälin, Hausarzt und Präsident der AefU fest. „Und es verletzt die Vorgaben des Kernenergiegesetzes, das einen funktionierenden Notfallschutz verlangt, um überhaupt AKWs betreiben zu dürfen“.
Atomunfall und gleichzeitiger Stromausfall
Insbesondere bei einem gleichzeitigen Stromausfall ist heute nicht einmal sicher, ob die Alarmierung der Menschen wirklich funktionieren würde: „Wer hat noch ein portables UKW-Radio und die entsprechenden Batterien zu Hause, um die Verhaltensanweisungen der Behörden zu empfangen? Diese Zeiten sind in vielen digitalen Haushalten längstens vorbei“. Ohne Strom aber funktionieren weder Internetradio noch Handyantennen. Doch selbst mit Strom: Die Handynetze und einschlägige Internetseiten dürften auch unter dem zu erwartenden Ansturm zusammenbrechen, wie selbst die Behörden einräumen.
Damit wird auch das Aufgebot der Sicherheits- und Rettungsorganisationen im betroffenen Gebiet zum Problem, das oft via Handy erfolgt. Das zuständige Bundesamt für Bevölkerungsschutz hat dafür keine praktikable Lösung.
Konkrete Umsetzungspläne fehlen
Für den Bevölkerungsschutz bei einem schweren Atomunfall existieren heute zwar „viele Planungspapiere, aber praktisch keine konkreten Umsetzungspläne“. Es ist unklar, wie vorsorgliche Evakuierungen rechtzeitig stattfinden oder nachträgliche Evakuierungen durch verstrahltes Gebiet durchgeführt werden könnten. Insbesondere die Situation von Menschen mit Mobilitätsbehinderungen oder in Alters-, Pflege- und Behinderteninstitutionen wäre unter Umständen rettungslos.
Sogar für die Evakuierung der unmittelbaren Umgebung der AKWs gibt es teilweise bloss „Grobkonzepte“. Konkrete Evakuierungspläne für einen grösseren Radius oder grössere Städte wie Bern, Biel oder Aarau fehlen. Dies, „obwohl wir seit 47 Jahren AKWs betreiben und ein schwerer Unfall schon jederzeit in einem der Schweizer Uralt-Reaktoren geschehen kann“, warnt Kälin.
Unabsehbare Folgen
Ein schwerer Atomunfall in der Schweiz aber hätte verheerende Folgen: Ganze Landstriche wären verseucht und unbewohnbar. Hunderttausende Menschen müssten evakuiert werden. Wie? Wohin? Auch fünf Jahre nach Fukushima ist der Bevölkerungsschutz nicht auf eine solche Atomkatastrophe vorbereitet. „Mit dem neuen Notfallschutzkonzept von 2015 suggerieren die Behörden die Beherrschbarkeit eines schweren AKW-Unfalls anstatt die Unmöglichkeit des Schutzes der Bevölkerung offen zu legen“, kritisiert Kälin. Zudem reicht die Notfallplanung nur bis kurz nach dem Unfall. Ein Langzeitkonzept für das Leben im verstrahlten Land fehlt komplett.
Hingegen sieht der Bund bereits vor, allfällige Entschädigungsklagen einzuschränken. Dazu soll den Menschen bei einem AKW-Unfall eine 100-fach erhöhte Strahlendosis zugemutet werden. Das schlägt das Bundesamt für Gesundheit BAG in seinem Entwurf zur neuen Strahlenschutzverordnung vor. Wer diese Dosis für sich und die Kinder nicht akzeptiert, würde freiwillig und ohne Anspruch auf Schadenersatz wegziehen. „Solch zweifelhafte Methoden auf Kosten der Gesundheit sind inakzeptabel“, betont Bettina Wölnerhanssen, Chirurgin und Oberärztin klinische Forschung von den ÄrztInnen für soziale Verantwortung/zur Verhütung eines Atomkrieges (PSR/IPPNW).
Ausstieg als einziger Ausweg
„Wir Ärztinnen und Ärzte könnten den Menschen in einem verstrahlten Land kaum helfen“, betont Kälin. Die ungeheure Dimension und die weitreichende Konsequenz eines Unfalls müssen zu einem Umdenken führen. Deshalb haben die AefU und PSR/IPPNW Schweiz das nationale Komitee „ÄrztInnen für den Atomausstieg“ gegründet, das u.a. mit eigenen Inseraten für ein JA zum geordneten Atomausstieg am 27. November 2016 wirbt.
Kälin und Wölnerhanssen rufen ihre BerufskollegInnen auf, dem Komitee beizutreten: „Das einzig sichere Rezept gegen einen schweren Atomunfall ist ein JA zum Ausstieg aus der Atomenergie“, das steht für Peter Kälin und Bettina Wölnerhanssen als Co-PräsidentIn des Komitees ausser Frage. Und: „Wäre die Atomenergie ein Medikament, sie wäre schon lange verboten. Die Risiken und Nebenwirkungen übersteigen den Nutzen bei weitem. Zudem gibt es Alternativen, die erst noch viel günstiger sind.“
Artikel von: Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (AefU) und ÄrztInnen für soziale Verantwortung/zur Verhütung eines Atomkrieges (PSR/IPPNW Schweiz)
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