Joachim Gauck – der „Präsident der Herzen“

Bereits 2010 war er für viele Deutsche der bessere Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten. Jetzt soll er – gewissermassen verspätet – doch noch ins Berliner Schloss Bellevue einziehen: Joachim Gauck.

Für die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bedeutet dies eine herbe Schlappe. Ihren Wunschkandidaten für das Präsidentenamt, Christian Wulff (CDU), hatte sie vor eineinhalb Jahren gegen die Opposition durchgesetzt – aus parteipolitischen Gründen. Nach Wulffs Rücktritt musste sie nun ausgerechnet den Kandidaten akzeptieren, der schon damals von den Oppositionsparteien SPD und Grüne nominiert worden war. Dabei blieb Merkel letztlich nichts anderes übrig – der Koalitionspartner FDP hätte sonst die Regierungskoalition platzen lassen, wie aus Insiderkreisen verlautet.

Joachim Gauck (72) wird den gescheiterten Vorgänger Christian Wulff (52) beerben, dem eine Vielzahl von Affären rund um zinsgünstige Privatkredite und Gefälligkeiten von Unternehmerfreunden zum Verhängnis wurden. Erst auf Druck der Staatsanwaltschaft Hannover, die Ermittlungen wegen des Verdachts der Vorteilsannahme aufnahm, sah sich Wulff schliesslich zum Rücktritt gezwungen. Der unrühmliche Abgang macht den Jüngsten aller deutschen (Ex-)Bundespräsidenten zugleich zum Glücklosesten mit der kürzesten Amtszeit.

Designiertes deutsches Staatsoberhaupt mit Format

Viele Deutsche hoffen nun, dass Gauck dem Amt verlorene Würde zurückgeben kann. Das Format dazu hat er ohne Zweifel. Das grosse Lebensthema des protestantischen Pastors aus Rostock ist die Freiheit. Zu DDR-Zeiten setzte sich Gauck beherzt gegen das Regime und für Menschen- und Bürgerrechte ein. Als Beauftragter für die Stasi-Unterlagen (1990-2000) wachte er über die Aufarbeitung der DDR-Diktatur. In rhetorisch geschliffenen politischen Reden versteht es Gauck, Menschen für die Ideen der Freiheit, Verantwortung, Bürgergesellschaft und Demokratie einzunehmen.

Gaucks Anhänger rechnen ihm hoch an, dass er als Parteiloser nicht zum politischen Establishment gehört, was Unabhängigkeit verheisst. Er selbst bezeichnet sich als „linken, liberalen Konservativen“. Prinzipiell ist er damit in der Lage, ein breites politisches Spektrum über die Parteigrenzen hinweg abzudecken.

Entscheidend wird sein, inwiefern Gauck „Freiheit“ und „Verantwortung“ konkretisieren wird, soll deren Beschwörung nicht leeres Pathos bleiben. Heute wird die Freiheit nicht mehr durch Kommunismus und Stalinismus bedroht – Erfahrungen, die Gaucks Leben prägten. In unserer Zeit ist es vielmehr ein ungezähmter Finanzkapitalismus, der die Demokratie bedroht. Es gilt, Freiheit und Demokratie gegen unregulierte Finanzmärkte und staatliche Bankenrettungsmassnahmen – etwa getarnt als Euro-Rettungsprogramme – zu verteidigen. Wird Gauck als Staatsoberhaupt dazu einen Beitrag leisten? Dies ist die entscheidende Frage, an der er sich messen lassen muss.

 

Titelbild: Dereje / Shutterstock.com

MEHR LESEN