Rotkäppchen-Effekt mit Streitpotential
von Olaf Hoffmann
Was für Tierschützer nach über 150 Jahren wolfsfreier Zone als Gewinn erscheint, lässt bei so manchem Schweizer die Nackenhaare in die Höhe steigen. Schuld daran ist nicht nur der vielbeschworene Rotkäppchen-Effekt, sondern eben auch die Furcht vor dem Raubtier schlechthin und dem unbekannten Wolf im Besonderen.
Europa wird wieder zur Heimstatt
Vor knapp 200 Jahren war die Wolfsjagd gewissermassen auf dem Höhepunkt und so galten die ausdauernden und anpassungsfähigen Tiere seit mindestens 150 Jahren in vielen Regionen Europas als ausgerottet. Nur langsam und immer gegen den Willen der breiten Landbevölkerung haben die Tiere ihren Vormarsch auf Europa wieder gestartet und sind seit geraumer Zeit auch in der Schweiz wieder zu beobachten. Wobei Beobachtung aus zweierlei Hinsicht ein geglückter Begriff ist. Tier- und Naturschützer beobachten die Rückkehr des Rudeljägers interessiert und nicht ohne Stolz, Bauern, Viehzüchter und so mancher Wanderer eher mit Besorgnis. Immerhin gilt der Wolf in der menschlichen Geschichte als eines der bedrohlichsten Raubtiere.
Diskussion in vollem Gange
Entsprechend hoch ist auch der Diskussionsbedarf hierzulande. Während die einen die Rückkehr der Wölfe als Erfolg feiern, sträuben sich die anderen, dem gefürchteten Räuber auch nur das kleinste Stückchen Land zu überlassen. Berichte von gerissenen Schafen, so manchem im Wald verschwundenem Hund und die Angst vor dem Rotkäppchen-Trauma führen zu Debatten, die nicht selten auch irgendwie aberwitzig erscheinen.
Dabei sollen und müssen beide Seiten in der Auseinandersetzung gehört und verstanden werden. Sicherlich gehört der Wolf hierher, wenn er sich denn für Reviere in der Schweiz entschieden hat. Andererseits erscheint es wahnwitzig, den Wolf hier per Dekret und Organisation auszusetzen. Wenn ein Tier die Schweiz als Lebensraum für sich erkannt hat, soll es hier auch leben, allerdings nur in einer Population, die nicht im Gegensatz zu den Interessen der hier lebenden Menschen steht.
Aus dieser Sicht heraus erscheint es auch logisch, dass in einzelnen Debatten zum Thema Wolf schon jetzt wieder die Abschussfreigabe diskutiert wird, obgleich die Anzahl der in der Schweiz lebenden Wölfe dazu wahrlich noch keinen wirklichen Anlass bietet.
Rotkäppchen-Trauma wirkt
Bekannt ist der Wolf den meisten Zeitgenossen vor allem aus den Märchen der Gebrüder Grimm. Ob in Rotkäppchen oder in Die sieben Geisslein, immer war und ist hier der Wolf die Verkörperung des Bösen, Verfressenen und Schaurigen. Kaum ein Erwachsener erinnert sich nicht mehr an die schaurig-schönen Märchenstunden, in denen unter anderen Bösewichtern auch der gefrässige Wolf eine bedeutende Rolle spielte.
Und wie vor allem vermeintlich Bösem sitzt auch die Angst vor dem Wolf tief in der menschlichen Natur. Dabei ist eine solche Angst meist unbegründet. In der freien Wildbahn zeigt sich der Wolf eher scheu und viele derer, die hier eine erbitterte Diskussion führen, haben noch nie einen lebendigen Wolf gesehen. Insofern ähnelt die weit verbreitete Angst vor dem bösen Wolf schon eher einem Trauma, denn einem echten Erfahrungswert.
Dazu kommen selbstredend die Berichte betroffener Bauern und Viehzüchter, die ihre Weiden und Herden durch den zugewanderten Wolf in Gefahr sehen. Sicherlich ist der Wolf ein Raubtier und mit Sicherheit holt er sich seine Beute dort, wo sie ihm gewissermassen auch ungeschützt vor die Nase gesetzt wird. Dabei fällt der Wolf längst nicht über jedes Schaf, Pferd oder Kalb her. Auch der Wolf frisst letztlich nur so viel, bis er satt ist und jagt weder im Blutrausch noch aus reiner Mordlust.
Weideschutz mit Tierschutz verbinden
Sinnvoller wird die Diskussion generell dort geführt, wo beide Seiten mit ihren gleichberechtigten Interessen distanziert und fair betrachtet werden. Dort wird analog zum Tierschutz auch von einem verbesserten Weideschutz gesprochen. Auf diese Weise soll es gelingen, die Interessen beider Seiten irgendwie zu berücksichtigen und dem Wolf als Raubtier den Schrecken zu nehmen.
Erstaunlich in der gesamten Diskussion zeigt sich die Tatsache, dass man einem einzelnen Bären mit mehr Wohlwollen gegenübersteht als einem kleinen Rudel Wölfen. Dabei ist doch auch der Bär ein Raubtier mit deutlich mehr Appetit und mindestens der gleichen Gefahr, wie sie der Wolf ausstrahlt. Allerdings hat der Bär eben ein durchaus liebenswertes Teddybären-Image, während der Wolf eben das verkörperte Böse aus den phantasievollen Märchenstunden der Kindheit ist.
Sachlichkeit angemahnt
In der gesamten Diskussion um die Wiederansiedlung von Wölfen in der Schweiz darf durchaus ein höheres Mass an Sachlichkeit angemahnt werden. An erster Stelle sollte hier die Aufklärung darüber stehen, was der Wolf für den Menschen bedeutet, wie er wirklich lebt und welche Gefährdungen tatsächlich vom Schreckenstier der Märchen und Geschichten ausgeht. Nur auf einer solchen sachlichen Ebene lässt sich eine vernünftige Diskussion über das Wiederkehren der Wölfe und die damit zusammenhängenden Umstände führen. Wer hier gleich mit der Muskete droht, hat sicherlich das wahre Wesen des Wolfes völlig falsch bewertet. Das gilt allerdings auch für jene, die eine ungehinderte Ausbreitung des Räubers ohne Wenn und Aber befürworten.
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