Streit um den zweiten Gotthard-Tunnel hitzig wie lange nicht mehr
von Agentur belmedia
Das Schweizer Parlament hat vor, eine zweite Röhre durch das Gotthard-Massiv zu bauen. Ziel ist, die vorhandene Röhre sanieren zu können.
Darin sehen die Gegner eine Verletzung des Alpenschutzartikels. Sie haben das Referendum ergriffen. Doch im Abstimmungskampf geht es um mehr als ein weiteres Loch im Berg.
Wer an den Gotthard denkt, denkt an Stau zur Ferienzeit, an EU-Lastwagen auf Transitfahrt und an Feuer im Tunnel. Um Verkehr und Sicherheit geht es am 28. Februar ebenfalls. Doch vor allem geht es um die Glaubwürdigkeit der Politik: Umstritten ist nämlich, ob die Gotthard-Achse trotz einer zusätzlichen Röhre weiterhin zweispurig betrieben wird oder ob dereinst alle vier Spuren für den Verkehr geöffnet werden.
Seit Annahme des Alpenschutzartikels 1994 verbietet die Verfassung, die Kapazität der Transitstrassen im Alpengebiet zu erhöhen. Darum steht im Gesetz für den Bau der zweiten Röhre, dass pro Fahrtrichtung nur eine der zwei Spuren betrieben werden darf. Die zweite soll als Pannenstreifen dienen.
Einladung für vierspurigen Verkehr?
Dieses Regime werde nicht von Dauer sein, glauben die Gegner, zu welchen der Verein Alpen-Initiative, Umwelt- und Verkehrsverbände sowie SP, Grüne und Grünliberale gehören. Eine zweite Röhre sei geradezu eine Einladung für einen vierspurigen Betrieb, sagte der ehemalige Urner GLP-Ständerat Markus Stadler.
Der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner (SP) warnte vor der «normativen Kraft des Faktischen»: Wenn die Kapazität erst bestehe, werde man auf die Dauer nicht verbieten können, diese zu nutzen. Nach Ansicht der Gegner wäre die Verfassungsänderung, die laut Verkehrsministerin Doris Leuthard für einen vierspurigen Betrieb nötig ist, nur noch Formsache.
Die Gegner halten die Sanierung ohnehin für einen Vorwand der Strassenlobby, um sich den alten Wunsch nach einer zweiten Gotthard-Röhre zu erfüllen. Geplant ist, den neuen Tunnel ab etwa 2020 zu bauen. Anschliessend würde der bestehende, 16,9 Kilometer lange Tunnel gesperrt und saniert. Ab etwa 2030 sollen die beiden Röhren dann parallel betrieben werden.
Widersprüchliche Angaben zum Sanierungsbedarf
Die Sanierung wäre auch ohne zweiten Tunnel machbar. Im Sommer könnte ein Teil der Autos über den Pass fahren, die übrigen würden auf der alten Bahnstrecke per Zug transportiert. Für die Lastwagen würde der neue Basistunnel genutzt, der im Juni eröffnet wird. Dafür müssten im Norden und im Süden des Gotthard grosse Verladeterminals gebaut werden.
Diese Überbrückungsmassnahmen würden bis zu 900 Millionen Franken kosten. Nach Ansicht der Befürworter ist das Geld in einen neuen Tunnel besser investiert. Insgesamt ist ein solcher aber deutlich teurer: Der Bundesrat rechnet mit Kosten von rund 2,8 Milliarden Franken. Die Sanierung ohne zweite Röhre käme je nach Variante auf insgesamt 1,2 bis 2 Milliarden Franken zu stehen.
Inzwischen ist allerdings fraglich, ob die Sanierung überhaupt so dringend ist, wie es der Bundesrat 2013 in seiner Botschaft ans Parlament dargestellt hat. Dort heisst es, dass ohne Sanierung die Sicherheit ab 2025 nicht mehr vollumfänglich gewährleistet werden könne. Ein Ende 2015 veröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Bundes zeigt nun aber, dass der Tunnel bis 2035 sicher betrieben werden könnte. Die dafür nötigen Arbeiten könnten während der üblichen Nachtsperren durchgeführt werden.
Ideologisch geführte Debatte
Für die Befürworter ist ein richtungsgetrennter Tunnel aber ohnehin die mit Abstand sicherste Variante. Nach Ansicht der Gegner ist auch ein einziger Tunnel sicher, wenn versenkbare Mittelleitplanken eingebaut und weniger Lastwagen durchfahren würden.
Der Streit um die Sicherheit ist nicht das einzige Gefecht, das ideologisch ausgetragen wird. Die Befürworter, insbesondere jene aus dem Tessin, sehen den nationalen Zusammenhalt in Gefahr, wenn die wichtigste Strassenverbindung in den Südkanton fast drei Jahre lang gekappt wird. So lange wäre die Gotthard- Achse unterbrochen, wenn kein zweiter Tunnel gebaut wird. Allerdings gibt es auch im Tessin Stimmen, die mehr Verkehr befürchten und keine zweite Röhre wollen.
In der Westschweiz sorgt das Projekt wegen der hohen Kosten für Unmut. Das Geld, das im Gotthard verbaut werde, fehle für die viel dringenderen Umfahrungen und Verkehrsprojekte in den grossen Städten und Agglomerationen, argumentieren die Gegner. Verglichen damit sei der Gotthard mit seinen 17’000 Fahrzeugen am Tag eine unbedeutende Verkehrsachse, heisst es in der Romandie.
Der Gotthard: mehr als ein Berg
Zahlenmässig mag das stimmen. Doch ist der Gotthard eben nicht nur ein Berg. «Der Gotthard ist ein Mythos», stellte Verkehrsministerin Leuthard im Parlament fest. Das präge auch den politischen Prozess.
In dieser Ausmarchung haben die Befürworter klar die Nase vorne: Gemäss der jüngsten Trendumfrage waren Mitte Januar zwei Drittel der Stimmberechtigten für die zweite Röhre. Ebenso viele hatten 2004 den Gegenvorschlag zur Avanti- Initiative abgelehnt, der den Bau einer zweiten Gotthard-Röhre zum Ziel hatte.
Artikel von: sda/it
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