Ja, ist denn schon wieder Weihnachten?
von Claudia Göpel
Pünktlich im September, kurz nach dem Schulanfang in der Schweiz, geht es los: Der verdutzte Konsument wird, mal mehr, mal weniger intensiv, auf Weihnachtsstimmung getrimmt. Erste Anzeichen dafür, dass es doch bestimmt schon bald weihnachten muss, sind Lebkuchen und Advents-Guetzli in den Regalen der heimischen Supermärkte. Jahr für Jahr beschleicht uns das Gefühl, dass es diesmal noch früher loszugehen scheint. Eine jährlich wiederkehrende Imagination, denn tatsächlich erscheinen saisonale Produkte ziemlich zyklisch, und zwar jedes Jahr aufs Neue.
Wer bis vor wenigen Tagen noch entspannt in der Sonne gelegen hat, für den wirkt der erste Aufmarsch weihnachtlicher Köstlichkeiten befremdlich. Lebkuchen sind keineswegs die alleinigen Vorboten. In mancher Gelateria um die Ecke wird bald Eis mit Lebkuchengeschmack offeriert, und auch der Glühwein schleicht sich still und leise ins Weinregal. Dort steht er in trauter Gemeinsamkeit mit Schweizer Weinen wie Cabernet, Gewürztraminer und Weissburgunder, fast unbemerkt und als wäre er nie weg gewesen. Bei Facebook kursieren Fotos umfunktionierter Werbe-Aufsteller genervter Händler. Darauf ist zu lesen: „Bevor jemand was sagt … nein, es wird nicht jedes Jahr früher!“
Überpünktlich: Weihnachtsschmuck zum Fest
Nicht nur die Lebkuchenindustrie läuft jetzt auf Hochtouren, auch die Produktion von Weihnachtsschmuck wird angekurbelt. Und das ist kein Zufall, sitzt in der Schweiz doch der weltweit führende Hersteller mundgeblasenen Weihnachtsschmuckes. Vermutlich existiert keine Schweizer Familie, die nicht mindestens eine der edlen Christbaumkugeln der Manufaktur Wanner besitzt. Johann Wanner, dessen Einzelunternehmen seinen Sitz in Basel hat, ist eine echte Institution – die handwerklichen Wurzeln finden wir im Thüringen, Polen und Böhmen der 60er-Jahre. Zu dieser Zeit war das seltene Kunsthandwerk dem Aussterben nahe und konnte dank Wanner nicht nur neu belebt werden, sondern erlangte einen bis dahin nie erreichten Status.
Die Grimaldis, der Vatikan und die Clintons zählen zu den Kunden der Basler Manufaktur. Ihr Ladengeschäft ist dabei ganzjährig geöffnet, ähnlich wie die Nürnberger Lebkuchenhäuser. Denen haben wir es auch zu verdanken, dass bereits jetzt die leckeren Oblaten in den Regalen liegen. Dabei stellt sich die berechtigte Frage: Kauft zu dieser Jahreszeit tatsächlich schon jemand Lebkuchen, Weihnachtsgebäck, Glühwein & Co.? Glaubt man diversen Costumer Analytics, dann sogar reichlich – das Geschäft mit der Saisonware weit vor Saisonbeginn mag zwar grotesk anmuten, boomt aber gewaltig.
Keine Frage: Ostern ist nicht alle Tage
Mit anderen Saisonartikeln verhält es sich ähnlich. Der Osterhase begrüsst uns bereits kurz nach dem Weihnachtsfest, und kurz darauf tauchen bereits die ersten Riesenkürbisse auf: Halloween klopft wenig bescheiden an die Tür. Na gut, Kürbissuppe und Kürbismarmelade schmecken immer. Echte Vorfreude kommt dennoch bei den wenigsten Leuten auf. Bei Facebook existieren sogar diverse Gruppen, die zum Boykott der verfrühten Stimmungskiller rufen, denn irgendwie geht das Besondere dieser Jahreszeiten verloren, wenn sie sich nicht mehr an die Spielregeln halten.
Das World Wide Web ist schuld. Denn das Internet hat damit aufgeräumt, dass bestimmte Artikel nur zu bestimmten Anlässen und Jahreszeiten verfügbar sind. Onlineshops haben das ganze Jahr über geöffnet und stellen den Verkauf ihrer Waren nicht ein, nur weil der Kalender es so will. Die Konsumbereitschaft hat sich verändert und mit ihr auch das Angebot. Ob man deswegen auch sofort zugreifen muss, sobald der erste Spekulatius im Regal winkt, sei einmal dahingestellt.
Leckere Vanillekipferl in der Karibik?
Globalisierung und Technisierung: Immer mehr Menschen flüchten zur kalten Jahreszeit in wärmere Gefilde, unterhalten ein Ferienhaus am Meer oder fahren im Sommer in die Berge. Nicht nur saisonale Ware hat sich angepasst, auch die Lebensart. Wir tun die Dinge vermehrt, weil wir sie können. Und das betrifft eben nicht nur den verkleideten Schokoladenosterhasen unter dem Weihnachtsbaum, sondern so ziemlich alle Lebensbereiche. Wer also das Bedürfnis verspürt, zartes Wintergebäck am Strand von Acapulco zu geniessen, der soll das tun.
Eigentlich schmeckt der Osterhase aus Schokolade ohnehin exakt so wie sein weihnachtlicher Geselle, er sieht nur geringfügig anders aus. Der Sossenlebkuchen in der gutbürgerlichen Küche ist geschmacklich ebenfalls nicht weit entfernt von seinem weihnachtlichen Pendant, und Gewürze wie Sternanis, Zimt und Vanille sind das ganze Jahr über fester Bestandteil der internationalen Küche. Also: einfach mal die Füsse baumeln lassen, abschalten und bei brütender Hitze einen Glühwein trinken. Weil es geht.
Oberstes Bild: © Dream79 – Shutterstock.com