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Das Phänomen der psychologischen Lücke

12.11.2014 |  Von  |  Beitrag

Sie haben das sicher auch schon mal erlebt. Über Nacht hat es gefroren. Wege und Strassen sind vereist. Sie nehmen sich fest vor, bei dem Weg zur Arbeit besondere Sorgfalt walten zu lassen. Aber je stärker Sie sich konzentrieren, desto eher passiert genau das, was Sie vermeiden wollten. Was sind die Ursachen für dieses Phänomen, warum geschieht oft das, was man mit aller Macht verhindern will, und was kann man dagegen tun? 

In einem solchen Fall redet man gemeinhin von einer psychologischen Lücke. Die kommt auch in folgender Situation zu ihrem Recht: Das Auto hat wie ferngesteuert genau den einzigen Baum neben der Strasse getroffen, obwohl um den Baum herum noch massig Platz zum Ausweichen gewesen wäre.

Rekonstruiert der Autofahrer den Unfallhergang im Nachhinein, sieht er sich oft fassungslos der Tatsache seines offenbaren Blackouts gegenüber.

Worum handelt es sich bei diesem Phänomen?

Psychologische Lücke meint nun nicht den Verlust des Gedächtnisses oder das deprimierende Gefühl der Verlassenheit nach dem Verlust eines Menschen, den man sehr geliebt hat. Mit einer Lücke bezeichnet man in der Regel das Nichtvorhandensein einer Verbindung von zwei oder mehr Dingen, die nach eigener Erfahrung als zusammengehörig empfunden werden.

Im Strassenverkehr kommt folgender Fall recht häufig vor: Sie fahren mit Ihrem Auto eine Allee entlang. Sie verlieren – aus welchen Gründen auch immer – auf einmal die Kontrolle über Ihr Fahrzeug. Ein Zusammenstoss mit einem der zahlreichen Bäume am Rande der Strasse droht. Sie konzentrieren sich auf das in Frage kommende Objekt. Ihre gesamte Aufmerksamkeit ist auf diesen Baum fokussiert. Plötzlich überfällt Sie eine unerklärliche Lähmung. Wie unter Hypnose werden Sie von diesem Zentrum Ihres Denkens – und Handelns – angezogen. Der Zusammenstoss erscheint unabwendbar.

In dieser Situation haben Sie das psychologische Vermögen verloren, eine Lücke zwischen den Alleebäumen wahrzunehmen und Ihr Denken und Handeln darauf zu konzentrieren, mit Ihrem Auto diese Lücke zu nutzen. Paradoxerweise nehmen die Bäume einen wesentlich geringeren Raum ein als die nicht bepflanzten Stellen dazwischen. Nach den Gesetzen der Logik wäre somit das unbeschadete Überstehen dieser kritischen Situation die wahrscheinlichere Alternative als das Aufeinandertreffen mit einem Baumstamm.

Wahrnehmung und Vermeidung der Gefahr befinden sich nicht mehr in einer zwangsläufigen Verbindung. Dies macht das Wesen der psychologischen Lücke aus. Das Auslassen der real möglichen Vermeidungshandlung resultiert aus der Furcht vor der – freilich nur gedachten – Zwangsläufigkeit der möglichen Katastrophe.


Sie nehmen sich fest vor, bei dem Weg zur Arbeit besondere Sorgfalt walten zu lassen. (Bild: © arosoft - shutterstock.com)

Sie nehmen sich fest vor, bei dem Weg zur Arbeit besondere Sorgfalt walten zu lassen. (Bild: © arosoft – shutterstock.com)


Gibt es Möglichkeiten einer wirksamen Gegenstrategie?

Mit dem richtigen Training kann man lernen, sich in solchen kritischen Situationen richtig zu verhalten. Zuerst müssen Sie akzeptieren, dass in bestimmten Fällen psychologische Lücken existieren. Allein zu wissen, dass die Zwischenräume zwischen ihnen breiter sind als die Baumstämme selbst, genügt nicht. Um es an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Ein entgegenkommender Wagen schneidet die Kurve und riskiert so einen Aufprall. Ein Ausweichen auf die freie Gegenfahrbahn oder ein reaktionsschnelles Lenken in den Strassengraben wären in diesem Fall die Unfall-Vermeidungsstrategien. Wenn Sie nun auf Ihrem Fahrstreifen beharren, nutzt Ihnen das Erkennen der psychologischen Lücke nicht wirklich. Das fehlende Umschalten vom erkennenden Denken zum vermeidenden Handeln wird wahrscheinlich dazu führen, dass sich der als möglich gedachte Zusammenstoss auch tatsächlich ereignen wird

Versuchen Sie also zuerst, sich mehrere Situationen mit möglichen psychologischen Lücken vorzustellen. Ziel wäre es, diese Lücken zunächst einmal abstrakt zu analysieren. Nach diesem theoretischen Beginn sollten Sie sich der Praxis zuwenden. Fahrsicherheitstrainings bieten die Möglichkeit, kritische Fahrsituationen auf extra dafür geschaffenem Gelände immer wieder zu üben. Richtiges Reagieren bei Aquaplaning, wirkungsvolles Bremsen in Gefahrensituationen sowie das kontrollierte Lenken und Fahrverhalten bei plötzlichem Ausweichen bei Aufprallgefahr sind nur drei Beispiele der mannigfachen Übungsmöglichkeiten. Durch gezielte Fahrpraxis in risikobehafteten Situationen werden Sie langsam, aber sicher die Fähigkeiten erwerben, die Ihnen helfen werden, der psychologischen Lücke beizukommen. Die Praxis, die Sie sich während Ihrer Führerausweis-Fahrausbildung erworben haben, reicht dazu bei Weitem nicht aus.

Strategien zur Vermeidung persönlicher Barrieren

Persönliche Barrieren verhindern oft logisches und lebensrettendes Handeln in Gefahrensituationen. Ihrer Vermeidung muss Ihr besonderes Augenmerk gelten, wollen Sie sich nicht die Chance des richtigen Handelns nehmen. Entscheidend ist hier Ihre Offenheit auch für aus dem Rahmen fallende Wege. Oft ist dies nicht leicht, besonders dann, wenn der Weg von dem, was Sie im Normalfall als besonnenes Handeln ansehen, abweicht. Beispiel ist hier das bereits erwähnte Ausweichen auf die Gegenfahrbahn, wenn auf der eigenen Spur Gefahr droht.

Lässt sich die Vermeidung von Unfällen durch das Funktionalisieren der psychologischen Lücke quantifizieren?

Bisher gibt es dazu keine zuverlässigen Untersuchungen. Unbestritten ist allerdings, dass der ein oder andere Aufprall-Unfall mit tödlichem Ausgang mit dem oben beschriebenen „Lücken-Training“ zu vermeiden gewesen wäre. Im Fokus sollte nicht die Gefahrenhindernis selbst, sondern vielmehr ihre mögliche Umgehung stehen. Vorausschauendes und defensives Fahren helfen dabei schon erheblich weiter, da als häufigste Unfallverursacher das Ignorieren von physikalischen Gesetzmässigkeiten und die vollkommene Überschätzung der eigenen Fähigkeiten gelten müssen.

 

Oberstes Bild: © Pack-Shot – shutterstock.com

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