Präsentation von Büchern und Handschriften zum mittelalterlichen Recht
von Romy Schmidt
Vor allem in der letzten Zeit stand die Entwicklung des Rechts in der Schweiz wieder öfter auf der politischen Agenda. Sie wurde diskutiert – und dies sicher nicht zuletzt wegen der steigenden Regelungsdichte oder der Forderungen nach einem Austritt aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte.
Möglicherweise lohnt ein Blick in die Vergangenheit, genauer, auf die Entwicklung des Rechts und der abendländischen Rechtssprechung. Zwar kommen uns heutzutage in Bezug auf das „finstere Zeitalter“ und die mittelalterliche Rechtssprechung vor allem Begriffe wie Folter, kaltblütige Henker, Blutrichter in den Sinn, Fakt ist jedoch, dass die Rechtsprechung im Mittelalter voller grausamer Geschichten und Mythen ist. Fakt ist zudem, dass das Mittelalter keine Zeitperiode eines rechtsfreien Raumes war. Vielmehr prägten den Alltag und die Gesellschaft sowohl weltliche als auch kanonische Massgaben.
Die Stiftsbibliothek St. Gallen präsentiert erstmals eine Jahresausstellung zum mittelalterlichen Recht und zu einschlägigen Rechtshandschriften. Besucher der Ausstellung werden mit Hilfe der einzigartigen Handschriftensammlung der Stiftsbibliothek durch den spannenden Entwicklungsprozess des Rechts geführt, und zwar von der Antike bis ins ausgehende Mittelalter. Neben dem Papst und dem Kaiser als Rechtsquellen werden in der Ausstellung auch Themenbereiche wie das Beicht-, Ablass- und Busswesen sowie der Gerichtsprozess thematisiert. Entsprechend werden bedeutende Handschriften der Alemannen, Franken und der Langobarden gezeigt, die über die frühmittelalterlichen Volksrechte Auskunft geben. Darüber hinaus werden bedeutende Dokumente aus dem 12. Jahrhundert ausgestellt, mit deren Hilfe sich Besucher über die Entstehungszeit der Rechtswissenschaften sowie der Universitäten informieren können. Wer sich für eine Zeitreise durch die Entwicklung der abendländischen Rechtssprechung entscheidet, wird schnell feststellen, dass die aktuelle Jahresausstellung der Stiftsbibliothek St. Gallen einen interessanten Beitrag zum gesellschaftlichen und politischen Diskurs leistet.
Wenn Bücher Recht haben
Zweifelsohne sind Regeln und Gesetze für eine Gesellschaft unentbehrlich. Um Interessierten die Entwicklung des abendländischen Rechts bis zum Ende des Mittelalters näherzubringen, zeigt die St. Gallener Stiftsbibliothek in ihrer Ausstellung auch bis dato wenig bekannte Handschriften aus ihrem Bestand. Insgesamt verfügt die Bibliothek über etwa 80 Rechtshandschriften, die eine mittelgrosse Abteilung innerhalb der Stiftsbibliothek bilden. Für viele ist es deshalb verwunderlich, dass dieser Thematik bisher noch keine Jahresausstellung gewidmet wurde. Hinzu kommt, dass die Stiftsbibliothek St. Gallen über einige Handschriften von ausserordentlicher Relevanz für die abendländische Rechtsgeschichte verfügt, die mit Hilfe der Ausstellung „Wenn Bücher Recht haben“ nun erstmals auch interessierten Besuchern zugänglich gemacht werden. Unter diesen bedeutsamen Quellen befinden sich Handschriften neben herausragenden Sammlungen germanischer Stammesrechte auch Quellen zum kirchlichen, römischen und zum karolingischen Recht.
Die Grundpfeiler der Ausstellung zur Entwicklung des abendländischen Rechts
Dass dem Thema des Rechts und der Entwicklung der Rechtssprechung von der Antike bis zum ausgehenden Mittelalter vom Team der Stiftsbibliothek St. Gallen nun erstmals eine Ausstellung gewidmet wird, mag daran liegen, dass historische Rechtsquellen auf den ersten Blick meist weniger attraktiv anmuten. Denn bei ihrer Erstellung wurde im Allgemeinen – anders als beispielsweise bei literarischen oder biblischen Texten aus der Zeit des Mittelalters – auf die Ausschmückung der Rechtstexte mit künstlerischen Minuskeln verzichtet, so dass sie weniger ansehnlich erscheinen. Diese Tatsache machte dem Team die Vorbereitung der Ausstellung umso schwerer, hatte es doch die Zielvorgabe alle zentralen juristischen Themenbereiche abzudecken und diese mit Handschriften zu illustrieren, ohne dabei bedeutende Handschriften auszulassen und den Besuchern zudem auch etwas fürʼs Auge zu präsentieren.
Umso bemerkenswerter ist es, dass es den Mitarbeitern der Stiftsbibliothek gelungen ist, all diese Vorgaben zu erfüllen, ohne auf Quellenbestände anderer Bibliotheken zurückgreifen zu müssen. Schon hier wird deutlich, von welcher Qualität die St. Gallener Handschriftensammlung ist und dass die Ausstellung imposante Einblicke in die Rechtsordnung und das Rechtsverständnis des Mittelalters gewährt. Aufschlussreich sind vor allem die frühmittelalterlichen Handschriften mit Gesetzestexten der Alemannen, Franken und Langobarden. Unter den Quellen befindet sich beispielsweise eine alemannische Handschrift aus dem Jahr 793, die einen historischen Bussgeldkatalog für diverse Körperverletzungen offenbart. Die Abschrift nennt konkrete Tatbestände denen konkrete Ahndungen zugeordnet sind: So musste beispielsweise eine Person, die einer anderen ein Ohr abgeschlagen hat, und in deren Folge es zur Taubheit des Opfers kam, 40 Schillinge Bussgeld zahlen. Waren die Folgen „weniger dramatisch“, kostete den Täter die Körperverletzung lediglich 12 Schillinge.
Zudem erhalten Interessierte Einblicke in die sogenannten Kapitularien Karls des Grossen, bei denen es sich um Verlautbarungen und Gesetzeserlasse zur Vereinheitlichung des Rechtswesens im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nationen handelte. Und letztlich können Besucher Bussbücher bestaunen und sich mit den kirchlichen Busstarifen für zahlreiche Vergehen vertraut machen.
Ebenfalls recht konkrete Einblicke in das Rechtsverständnis des Mittelalters bieten die Quellen zum Ablass-, Beicht- und Busswesen. Anhand der Texte zeigt sich, wie sich das Recht auf den gemeinen Menschen auswirkt: Recht streng sind beispielsweise die Klosterregeln Columbans, denn bereits für geringe Vergehen gab es Prügelstrafen. Und auch in der Handschrift Decretum von Burchard von Worms wird deutlich, wie streng das Leben geregelt war: So erhielten Personen, die bestimmte, von der Kirche nicht gebilligte sexuelle Praktiken wie beispielsweise Onanie ausübten, die Strafe zwanzig Tage bei Wasser und Brot Busse zu tun.
Das Recht als Wissenschaft im Hoch- und Spätmittelalter
Im Zuge der Gründung von Universitäten im Hoch- und im Spätmittelalter avancierte die Rechtswissenschaft zu einer eigenen Disziplin. Daneben bauchte auch das kanonische Recht seinen Einfluss weiter aus. Zweifelsohne ein Meilenstein der Rechtsgeschichte ist das sogenannte Decretum Gratiani. Bei diesem handelt es sich um ein im Jahr 1140 vollendetes Lehrbuch zum Kirchenrecht, dessen Inhalt bis ins 20. Jahrhundert, genauer bis zum Jahr 1918, die Grundlage des Rechts der katholischen Kirche darstellte. Bemerkenswert an dieser Quelle ist, dass die Gelehrten von einer thematischen oder chronologischen Zusammenstellung der Rechtstexte absahen und stattdessen dazu übergingen, die gesammelten Schriften zum Recht in eine Gesamtordnung zu integrieren. Dies gelang ihnen einerseits durch die Auflösung von Widersprüchen zwischen den Rechtstexten sowie einer Hervorhebung von Parallelen. Aufgrund dieses Aufbaus kam es zu einer Veränderung des Layouts. Zur Veranschaulichung dieser Neuerung wird in der Ausstellung der Cod. Sang. 742 präsentiert. Diese Handschrift verfügt nicht nur über ein Bild, um das herum sich der eigentliche Rechtstext befindet, sondern zudem über Anmerkungen und Notizen am Rand, die von den Rezipienten angebracht wurden.
Wer meisterte die Herausforderung dieser Präsentation?
Die Ausstellung „Wenn Bücher Recht haben. Justitia und ihre Helfer“ wurde von einem Viererteam, bestehend aus dem Stiftsbibliothekar Cornel Dora sowie Franziska Schnoor, Karl Schmuki und Philipp Lenz entwickelt. Ambitioniert haben Sie sich gemeinsam der kniffeligen Aufgabe gestellt, aufzuzeigen, woher das Recht überhaupt kommt und mit welchen enormen kulturellen Leistungen die Entwicklung des Rechtssystems einhergeht. Wer sich diese überaus interessante Zeitreise in die Geschichte des Rechts nicht entgehen lassen möchte, kann sich die Ausstellung noch bis zum 8. November 2015 im Barocksaal des Stifts St. Gallen ansehen.
Oberstes Bild: Rathaus Buxtehude, Glasmalerei im Treppenaufgang zum Obergeschoss – „Die Gegenwart von Justitia bei der Steuereinnahme für die Stadtkasse“. (© Oxfordian Kissuth, Wikimedia, CC)