Kapo Bern: Sexualisierte Gewalt - eine Geschichte, mehrere Wege – Teil 2
In Teil 1 des Blogbeitrages zur sexualisierten Gewalt ist der Anfang der Geschichte von Barbara erzählt worden: Barbara wird von Luca vergewaltigt.
Als sie später von ihrem Vater bei Luca abgeholt wird, überlegt sie fieberhaft, ob sie ihrem Vater alles erzählen soll.
Haben Sie Barbara dazu geraten, nach dem ungewollten Geschlechtsverkehr mit Luca niemandem davon zu erzählen und das Vorgefallene zu vergessen? Lesen Sie weiter bei „Ende 2“.
Falls Sie Barbara ermutigt haben, ihrem Vater alles zu erzählen, gehen Vater und Tochter gemeinsam folgende Möglichkeiten durch:
Option 1
Barbara weiss, dass eine Vergewaltigung als Offizialdelikt gilt, was bedeutet, dass aufgrund der Schwere der Straftat die Behörden (Polizei und Staatsanwaltschaft) verpflichtet sind, die Straftat zu verfolgen, sobald sie davon Kenntnis erhalten. Weil sich Barbara noch nicht im Klaren ist, ob sie eine Anzeige einreichen wird, entscheidet sie sich gegen eine Meldung bei der Polizei. Vielmehr beschliesst sie, mit ihrem Vater ins Inselspital Bern zu fahren. Lesen Sie weiter unter „Ende 1“.
Option 2
Weil sich Barbara nicht weiter mit dem Geschehenen auseinandersetzen will, bringt ihr Vater sie nach Hause. Die Konsequenz davon ist: Zu einem späteren Zeitpunkt wird eine Anzeige nicht mehr so effektiv sein, da keine Beweise mehr vorhanden sind. Entscheidet Barbara sich für diese Variante, lesen Sie bei „Ende 2“ weiter.
Ende 1
Im Inselspital angekommen, wird Barbara von einer Ärztin betreut, die vorsichtig erfragt, was geschehen ist. Danach erfolgt die körperliche und gynäkologische Untersuchung durch eine Rechtsmedizinerin und eine Gynäkologin. Allfällige Verletzungen an Barbaras Körper werden dokumentiert und Spuren gesichert. Die Fachpersonen informieren Barbara über jeden Schritt, den sie vornehmen. Sie treffen ausserdem die notwendigen Vorkehrungen in Bezug auf mögliche Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaft, wenn Barbara das will.
Im Anschluss spricht die Ärztin die Anzeige an. Barbara erfährt, dass sie nicht zwingend jetzt eine Anzeige erstatten muss. Die Verjährungsfrist der Vergewaltigung beträgt 15 Jahre. So lange werden die medizinischen Beweise aufbewahrt. Barbara hat also Zeit, eine Entscheidung zu treffen, und beschliesst, nach Hause zu fahren, um das Ganze zu verarbeiten. Sie möchte ohnehin die Opferberatungsstelle aufsuchen, um sich umfassend beraten zu lassen.
Ende 2
17 Jahre später erzählt Barbara ihrer Mutter von der Vergewaltigung. Barbara weint nicht mehr. Sie erzählt ihrer Mutter, dass sie froh ist, sich nach der Vergewaltigung nicht mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt zu haben und auch nicht schwanger geworden zu sein. Ihre Mutter ist schockiert und fordert Barbara auf, Anzeige gegen Luca zu erstatten. Weil sich Barbara damals nach der Vergewaltigung nicht ärztlich hat untersuchen lassen, gibt es heute keine Beweise. Und nach 17 Jahren ist die Vergewaltigung ohnehin verjährt.
Fazit
Wer sexuelle Gewalt erfahren hat, ist nicht verantwortlich für das Geschehene. Nur die tatausführende Person trägt die Verantwortung. Wie sich die betroffene Person nach einem Ereignis verhält und was sie unternimmt, ist sehr unterschiedlich. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Wichtig zu wissen ist, dass jede betroffene Person selbst entscheiden kann, welchen Weg sie gehen will.
Wenn Sie von sexualisierter Gewalt betroffen sind
Nach unmittelbar erlebter sexualisierter Gewalt hat die betroffene Person verschiedene Möglichkeiten:
- Ausgangspunkt Spital: Auf Wunsch wird dort die betroffene Person auf Verletzungen, sexuell übertragbare Infektionen und Spuren des Täters oder der Täterin untersucht. Die Ärztin oder der Arzt informiert sie über weitere Angebote sowie über die Möglichkeit einer Anzeige bei der Polizei.
- Ausgangspunkt Opferberatungsstellen: Diese Fachstellen bieten psychologische Beratung, informieren über die Möglichkeiten, über das Strafverfahren und über die Vor- und Nachteile einer Anzeige und begleiten die betroffene Person beim weiteren Vorgehen. Zudem haben diese Beratungsstellen die Möglichkeit, im Rahmen des Opferhilfegesetzes finanzielle Hilfe zu leisten. Welche Fachstelle aufgrund des Alters und des Geschlechts der betroffenen Person zuständig ist, finden Sie hier: Soforthilfe für Opfer körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt.
- Ausgangspunkt Polizei: Wird bei der Polizei ein schweres Sexualdelikt gemeldet, gilt es zu beachten, dass durch die Staatsanwaltschaft von Amtes wegen ein Strafverfahren eröffnet wird – unabhängig davon, ob das Opfer dies wünscht. Bei der Polizei wird die betroffene Person aber von erfahrenen und spezifisch ausgebildeten Mitarbeitenden betreut, wobei auf geschlechterspezifische Wünsche der betroffenen Person Rücksicht genommen wird. Für weibliche Betroffene besteht ein Frauenpikett, das bei akuten Fällen jederzeit aufgeboten werden kann. Die spezifisch ausgebildeten Mitarbeitenden organisieren die medizinische Betreuung und die Spurensicherung im Inselspital. Danach machen sie die Einvernahme mit der betroffenen Person und informieren sie über das weitere Vorgehen sowie über die Opferberatungsstellen. Sie bleiben während des ganzen Verfahrens für die betroffene Person Ansprechperson.
Weiterführende Informationen
Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine Kurzversion der Geschichte, welche die Autorin Debora, Tochter eines Mitarbeiters der Prävention, im Rahmen einer Arbeit an einer Universität geschrieben hat. Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten.
Quelle: Blog der Kantonspolizei Bern
Titelbild: Symbolbild © Kantonspolizei Bern